__________________________________ Das Buch: "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

______________________________________________ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

Dankrede des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels  Liao Yiwu

 

Liao Yiwu: Dieses Imperium muss verschwinden


Der chinesische Dissident Liao Yiwu erhielt 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
(Bildquelle: faz.net "Respekt für den Glatzkopf", 21.6.12)

Er wurde 1958 in der Provinz Sichuan geboren und lebte in eher ärmlichen Verhältnissen, nachdem sein Vater sich, um die Familie vor politischer Verfolgung zu schützen, von der Familie getrennt hatte. Anfang der 80er Jahre wurde er als Schriftsteller bekannt, seine Werke wurden jedoch 1987 verboten (Quelle: Wikipedia).
In der Nacht vor der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung am Tiananmen-Platz (Platz des Himmlischen Friedens) in Peking 2008 schrieb er ein Gedicht "Massaker" und brachte es danach in Umlauf. Dafür wurde er zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. (Quelle: faz.net, "Liao Yiwu bringt die Politik ins Grübeln", 14.10.12)
Danach wurde seine Aufenthaltsgenehmigung entzogen, er lebte am Rand der Gesellschaft als Straßenmusiker und mit Gelegenheitsjobs. 2011 flüchtete er über Vietnam nach Deutschland, wo er heute in Berlin lebt. (Quelle: Wikipedia)
Die Nennung seines Namens ist heute in China untersagt. (Quelle: faz.net "Liao Yiwu bringt die Politik ins Grübeln", 14.10.12)

Seine Dankrede, mit einigen erläuternden Kommentaren zu historischen Begriffen, ist unten zu lesen. (Quelle des Redetextes: FAZ vom 15.10.12) 

Es war einmal ein neunjähriger Junge namens Lü Peng, der die dritte Klasse der Shunchengjie-Grundschule in Peking besuchte. Die Neugier trieb ihn dazu, sich in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 hinter dem Rücken seiner Eltern aus dem Haus zu stehlen. Auf den Straßen tobten Krawalle. Lü Peng wurde frontal von einer Kugel getroffen und niedergestreckt. Noch viele andere starben in diesem Augenblick im Kugelhagel. Doch er war der Jüngste unter allen Opfern des Tiananmen-Massakers.
Die Nachrichten von seinem Tod verbreitete sich in derselben Nacht wie ein Lauffeuer in Peking. Unzählige schwärmten wütend auf die Straßen aus, gleich, ob sie schon geschlafen oder eigentlich nichts mit Politik zu tun haben wollten. Sie errichteten Barrikaden, um die Militärfahrzeuge aufzuhalten, und schleuderten Molotow-Cocktails und Steine gegen die bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, die die Ausgangssperre durchsetzen sollten. Der kleine Lü Peng lag auf einem Pritschenwagen, wie ein Held umringt von zahlreichen Demonstranten. Wortlos erzählte das Bild der Straßen vom Massaker. In jener Nacht konnten zahllose Menschen wegen dieses fremden Kindes ihre Tränen nicht zurückhalten. Wie viele von ihnen wurden damals wohl von einer Sekunde auf die andere vom Staat zu "konterrevolutionären Unruhestiftern" gestempelt?
Mit einem Wimpernschlag sind 23 Jahre vergangen. In meinem inzwischen auf Deutsch erschienenen Buch "Die Kugel und das Opium" führt Lü Peng die "Liste von 202 Todesopfern des Massakers auf dem Tiananmen" an. Er wird für immer neun Jahre alt sein. Ich möchte, dass er niemals vergessen wird. Deshalb hielt ich diese Todesnachricht fest.
Heute möchte ich hier allerdings eine andere Todesnachricht verkünden, die Nachricht vom Tode des chinesischen Großreichs. ein Land, das kleine Kinder massakriert, muss auseinanderbrechen - das entspricht der chinesischen Tradition.
Vor mehr als 2500 Jahren sprach unser verehrter Urahn, der Philosoph Laozi, in seinem Werk Daodejing häufig von zwei Wesen, die schwach und doch unübertrefflich sind: Das eine ist ein neugeborenes Kind, das andere ist das Wasser. Das Neugeborene steht für die Vermehrung der Menschheit und das Wasser für die Ausdehnung der Natur. Ein Kind behüten heißt, die unsprüngliche Energie, das Qi, der Menschheit zu bewahren. So kommt es in der Praxis der chinesischen Heilkunst Qigong darauf an, sich zuerst von allen störenden Gedanken frei zu machen und die Lebensenergie Qi im Unterleib zu sammeln, um in den ursprünglichen Zustand des Embryos im Mutterleib zurückzukehren.
Laozi geht einen Schritt weiter, er beschreibt das Bedürfnis der Menschheit nach Heimat, die Rückkehr zur heimatlichen Erde, die für einen alten Menschen so wichtig ist wie die Mutterbrust für den Säugling. Dafür braucht es keine "große Nation"; um dieses elementare Bedürfnis des Menschen zu erfüllen, braucht es vielmehr die Teilung eines Landes in kleine Einheiten. Der Philosoph Laozi war ein Apologet des "Spaltertums". Die ultimative Utopie ist für ihn der "kleine Staat mit wenigen Einwohnern".
Je kleiner ein Land ist, desto leichter lässt es sich regieren. Wäre ein Land nicht größer als ein Dorf, dann könnten seine Bewohner mühelos einen Präsidenten finden, zusammen trinken und zusammen pinkeln oder gemeinsam über Politik diskutieren. Eine wunderbare Vorstellung. Wenn aus einem fernen Land, vor allem aus einem fernen Land, von dem die Bewohner noch nie gehört haben - das könnte Deutschland sein oder die Vereinigten Staaten -, ein fremder Gast auftauchte, dann würde sich die Kunde in Windeseile verbreiten, die Freude wäre groß und es würde eine wunderbare Atmosphäre der Selbstgefälligkeit herrschen. Yao und Shun, die göttlichen Urväter Chinas, pflegten sich in vielerlei Gestalt unter das Volk zu mischen und widmeten sich der Politik mit dem gleichen Engagement wie dem Ackerbau. Dafür zollten ihnen alle großen Denker der chinesischen Geschichte seit Laozi, Zhuangzi, Konfuzius und Menzius Respekt.

 

 
























Daodejing: Ein grundlegendes Werk des Daoismus, wohl aus dem 4. Jh. v.u.Z., wird Laozi, einem legendären Meister aus dem 6. Jh. v.u.Z., zugeschrieben.
Qigong: Meditationsform, aus daoistischer Tradition; hervorgegangen aus Kampfkunstübungen







Zhuangzi: Verfasser und Titel des zweiten wichtigen Werkes des Daoismus, 3. Jht. v.u.Z.
Konfuzius: Philosoph des 5. Jht. v.u.Z. Er bewertete die Herrscher der (vergangenen) Zhou-Dynastie als edel und vorbildhaft.
Menzius: Nachfolger des Konfuzius, 3. Jht. v.u.Z.



Das diktatorische chinesische Großreich, mit dem wir es gegenwärtig zu tun haben, bestand ursprünglich, bis zur Zeit der Frühlings- und Herbstperiode und der Streitenden Reiche, aus unzähligen kleinen Splitterstaaten. Zwar erloschen während dieser Zeit niemals die Kriegsfeuer, und permanent okkupierte oder annektierte ein Staat den anderen. Aber Historiker sind sich dennoch einig, dass es sich um eine bis dato unübertroffen glorreiche Zeit, die Zeit einer nie dagewesenen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Blüte, handelte; nie wieder herrschte eine derartige Rede- und Debattenfreiheit, und Wissenschaft und Kunst eiferten um die Wette. Das geflügelte Wort vom "Wettstreit der hundert Schulen" bezieht sich auf diese Zeit.
Und heute? Heute geht die Kommunistische Partei, nachdem sie sämtliche Traditionen auf den Kopf gestellt hat, hin und usurpiert und verdreht schamlos das geistige Erbe vom "Wettstreit der hundert Schulen" und errichtet in aller Welt Konfuzius-Institute. Haben die ihre Klassiker nicht gelesen? Wissen die nicht, dass Konfuzius kein "Nationalchinese" war, sondern ein Bewohner des kleinen Staates Lu? Konfuzius war 56 Jahre alt, als er sich mit dem Fürsten seines Staates in politischen Fragen anlegte. Um sein Leben fürchtend, ergriff er Hals über Kopf die Flucht, um danach sein Dasein im Exil zu fristen und auf seinen Wanderungen eine ganze Reihe von Staaten zu durchstreifen. Erst mit  70 Jahren war es ihm vergönnt, in seine Heimat zurückzukehren. So gesehen, sollte doch Konfuzius als geistiger Urvater der politisch Verfolgten gelten, und was sich heute "Konfuzius-Institut" nennt, müsste im Grunde den Namen "Konfuzius-Exilanten-Institut" tragen.
Ein ähnliches Beispiel ist der Dichter Qu Yuan, ein prominenter Denker aus der Spätzeit der Streitenden Reiche. Enttäuscht und verzweifelt, weil sein Heimatstaat Chu von dem vom Gedanken des "einen Reichs unter dem Himmel" besessenen König von Qin usurpiert wurde, stürzte er sich, bevor sein "Land zerstört und die Familie zerstreut" war, in den Fluss Miluo und ertrank. Qu Yuan hinterließ unzählige einflussreiche Gedichte voller Heimatliebe, die bis heute jeder Chinese auswendig kennt. Die wahre Heimat dieses  Dichters ist die Gegend um den Dongting-See in der Provinz Hunan und nicht etwa das durch blutige Annexion und großes Leid geschaffene chinesische Großreich, in dem so viele Gebiete und Völker zwangshalber aneinandergekettet sind. Zum Gedenken an diesen unbeugsamen Künstler exisitiert bis heute der volkstümliche Brauch, an Qu Yuans Todestag das Drachenbootfest zu feiern. Alljährlich besteigt man zu diesem "Wasserfest" die Drachenboote, rudert durch die Wellen um die Wette und wirft Zongzi, eine kulinarische Spezialität des Staates Chu, ins Wasser - auf dass Qu Yuans Seele sie sich schmecken lasse.
Das dem Namen nach vereinte chinesische Großreich zog gewaltige Blutspuren durch die Geschichte. Unübertroffen in puncto Grausamkeit war der erste Reichseiniger Qin Shihuang, der sein Leben lang nach allen Himmelsrichtungen Kriege führte und sich Nachbarstaaten einverleibte, um sein Territorium zu vergrößern. Es heißt, die Bevölkerung dieses Territoriums habe sich unter seiner Herrschaft um zwei Drittel reduziert. Der Name des ersten Kaisers von Qin wird auf ewig für zwei seiner Großtaten zum Himmel stinken: den Bau der Großen Mauer und die Verbrennung von Büchern, die mit dem Mord an den Gelehrten einherging.
Die Errichtung der Großen Mauer sollte das Volk vom Kontakt mit der Außenwelt abhalten und China zu einem ultimativen Gefängnis machen. Zu diesem Zweck wurde das ganze Land in diesem Großprojekt zu Sklavenarbeit gezwungen. Die Verbrennung von Büchern und der Mord an den Gelehrten wiederum sollten das Volk von seiner eigenen Tradition scheiden. Listig hatte der Kaiser von Qin einen "Aufruf an alle Gelehrten" veröffentlicht, mit dem er 460 Philosophen aus allen Landesteilen in die Hauptstadt lockte, nur um sie dann bei lebendigem Leib begraben zu lassen - und noch dazu die klassischen Werke aus Hunderten von Jahren samt und sonders zu verbrennen.
Zweitausend Jahre später erntete er von einem neuen Despoten namens Mao Tse-tung großes Lob. Der rühmte sich: "Qin Shihuang hat gerade einmal 400 Konfuzianer unter die Erde gebracht, wir dagegen haben es gleich mit Zehntausenden von Konterrevolutionären aufgenommen." Da kann ein Qin Shihuang nicht mithalten.
Mao untertrieb. Laut den historischen Aufzeichnungen bemühte sich die Kommunistische Partei beim Aufbau des neuen China beflissen, es dem ersten Kaiser von Qin gleichzutun und das Volk bestmöglich von all seinen Traditionen zu entzweien. Mitten in der zunächst friedlichen Landreform wurde plötzlich dazu aufgerufen, die ausbeuterische Klasse zu eliminieren, und mehr als zwei Millionen Grundbesitzer, Landjunker und Vertreter der Volkskommunen wurden erschossen. Das bedeutete die Auslöschung der intellektuellen Schicht der Landbevölkerung, deren Großteil sich ohnehin bereits den neuen Landesherrn ergeben hatte. Doch die Kommunisten unterstellten ihnen "dunkle Machenschaften"; man meinte wohl, ihre störrischen alten Köpfe könne man nicht mehr in zeitgemäße neue Köpfe verwandeln.

Menschen morden. Das war die Methode, um das Fundament des neuen Staates zu legen. Darüber herrschte eine stillschweigende Übereinkunft von Mao bis Deng Xiaoping. Während der großen Hungersnot zwischen 1959 und 1962 verhungerten im ganzen Land beinahe 40 Millionen Menschen. Kaum begann Mao Tse-tung deshalb um seine Macht zu fürchten, blies er zum Kampf gegen reale und irreale Feinde und verpasste dem Volk eine Gehirnwäsche; während der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 wurden zwanzig bis vierzig Millionen Menschen zu Tode gefoltert; Mao hatte abermals um seinen Thron gefürchtet, also hieß es, noch stärker zum Angriff gegen die Feinde zu blasen und dem Volk noch mehr das Gehirn zu waschen. Der Große Vorsitzende ermahnte das Volk bei jeder Gelegenheit, dass nichts, selbst tödliche Katastrophen nicht, so schlimm sei wie "die Spaltung des Volkes, der Verlust der Partei und der Nation". Und das Volk ergab sich und versank demütig in einen Abgrund des Leids. Nicht viel anders fielen die Mahnungen Lenins, Stalins, Hitlers, Ceaus
escus, Kim Jong-ils, Saddam Husseins oder Gaddafis an ihr Volk aus. Tyrannenrhetorik. Ein vereintes Reich und territoriale Geschlossenheit - so sieht die endgültige Trumpfkarte der Diktatur aus. Wie viele Verbrechen wurden offen im Namen dieser Ziele begangen?
Im Juni 1989 sah die Kommunistische Partei ihre Macht erneut in Gefahr und setzte gut 200 000 Soldaten ein, um die Stadt Peking zu massakrieren. Während dort gepanzerte Militärfahrzeuge durch die Straßen fuhren und sich das Donnern der Gewehrsalven in der ganzen Welt vernehmen ließ, kauerte im fernen Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, ein Dichter zwischen einem Haufen alter Bücher und las in den Schriften des Philosophen Zhuangzi.
Nur einen Wimpernschlag scheint es her zu sein, dass ich wegen der Verbreitung meines Gedichts "Massaker" nach jener Nacht ins Gefängnis und wieder heraus wanderte... Einmal traf ich auf einen anderen alten Schriftsteller namens Liu Shahe, der 1957, lange vor meiner Geburt, ebenfalls wegen eines Gedichts von Mao Tse-tung der "Verunglimpfung der Partei" verdächtigt, zum Feind erklärt und ins Gefängnis geworfen wurde. Er sagte zu mir: Die Wunden, die einem ein solcher Schicksalsschlag zufügt, verheilen nie. Wir sind nun keine Dichter mehr, wir sind zu Zeugen der Geschichte geworden. Er zitierte eine Geschichte aus dem Werk Zhuangzis, auch er ein Zeitzeuge wie wir:
"Es war einmal in einem vom Feind umzingelten Staat namens Jia. Die Angreifer rückten immer näher. Schon bald hatten sie die Hauptstadt eingenommen, und den Bewohnern blieb nur die Flucht vor den mordenden und brandschatzenden Horden. Unter der fliehenden Menge befand sich auch ein alter Eremit namens Lin Hui. In seiner Brust barg er ein riesiges, äußerst wertvolles Jadestück. Plötzlich drang aus den Ruinen am Rande der Straße das Schreien eines Neugeborenen. Die Menge hielt erschrocken inne. Doch die Truppen waren ihnen auf den Fersen, schon gellten die Schlachtrufe in ihren Ohren, und panisch rannten sie weiter um ihr Leben. Nur Lin Hui hielt in seinem Lauf an und bückte sich, um das Kind aufzuheben. Das edle Jadestück vor seiner Brust war jedoch so groß und schwer, dass er das Kind unmöglich tragen konnte, ohne die Jade abzulegen. Er zögerte nicht und entschied sich für das Kind, zum Erstaunen aller, die ihn einen Dummkopf nannten. Wie kannst du auf deinen Schatz verzichten und dir ein Leben voller Plackerei aufbürden?, fragten sie. Lin Huis Antwort war: Es ist der Wille des Himmels."
Der Wille des Himmels: das heißt, die Wahrheit für die zukünftigen Generationen zu bewahren. Der Aufstieg und Fall von Staaten, die Teilung und Wiedervereinigung von Territorien mögen in die Geschichtschroniken eingehen; der Wille des Himmels überdauert alles. Dieses wahre Erbe unserer Geschichte liegt, wenn Flüsse und Berge vergehen, wenn ein Mao Tse-tung und ein Deng Xiaoping zum Morden aufrufen, vergessen in Ruinen, wie das Neugeborene, von dem Laozi und Zhuanzi schreiben, und weint hilflos vor sich hin.
Auch ich setze die Tradition des Erinnerns fort. Ich will auf Chinesisch, auf Englisch oder Deutsch meine Aufzeichnungen über die Opfer des Massakers mit der Menschheit teilen; und auch meine Überlegungen bezüglich des Auseinanderbrechens des chinesischen Reiches. Ich weiß nicht, wie viele Jahre es noch dauern wird, bis ich in das Land meiner geliebten Urväter zurückkehren kann. Daher will ich Ihnen hier, in dieser ehrwürdigen Paulskirche, vor der versammelten Elite Deutschlands einen vorzeitigen Tribut zollen. Besonders Meister Sima Qian, dem Altehrwürdigsten dieser Zunft, den die Machthaber kastrieren ließen, weil er sich in einer anderen Zeit der Scheinheiligkeit - der der Westlichen Han-Dynastie - der Wahrheit annahm, die wie ein fragiles Waisenkind bei ihm Schutz suchte. Sein Körper konnte sich nun nicht mehr fortpflanzen; seine Seele aber trotzte dieser Schmach. Sein großes historisches Werk Shiji, die "Aufzeichnungen des Historikers", hat mich zusammen mit einem anderen großen Werk, dem von König Wen von Zhou verfassten Yijing, auf meiner Flucht vor der chinesichen Diktatur begleitet.
Es besteht in der Geschichte stets ein enger Zusammenhang zwischen Kindern und der Wahrheit. Eine Dynastie, die so verkommen ist, dass sie Kinder massakriert und die Wahrheit foltert, deren Tage sind gezählt. Doch der gerissene Tyrann Deng Xiaoping griff zu einem Trick und begab sich im Frühjar 1992 auf eine historische Reise in den Süden, nach Shenzhen, wo er zur Rettung seiner Partei und der politischen Krise die Öffnung des chinesischen Marktes verkündete. Ich möchte hier noch einmal wiederholen, was ich bereits in "Die Kugel und das Opium" über das China der Gegenwart geschrieben habe. Ein China, in dem ich mich im eigenen Land heimatlos fühlte. Das Elend wurde immer schlimmer, und die Menschen stumpften immer weiter ab, während die chinesische Wirtschaft zunehmen florierte.
Weltweit ist man der Ansicht, der wirtschaftliche Aufschwung Chinas werde zwangsläufig politische Reformen nach sich ziehen und aus einer Diktatur eine Demokratie machen. Deshalb wollen jetzt all die Staaten, die dereinst wegen des Tiananmen-Massakers Sanktionen gegen China verhängten, die Ersten sein, die den Henkern die Hand schütteln und mit ihnen Geschäfte machen. Obwohl dieselben Henker noch immer Menschen inhaftieren und umbringen, immer neue Blutflecken zu den alten hinzukommen und neue Greueltaten die alten armselig aussehen lassen. Die einfachen Leute, die zwischen Blut und Grausamkeit ihr Dasein fristen müssen, verlieren dabei auch noch den letzten Rest Anstand.

Elend und Schamlosigkeit bedingen sich wechselseitig. Sie bestimmen unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nach dem Tiananmen-Massaker setzte sich die blutige Unterdrückung fort, gegen die Angehörigen der Opfer des Massakers, gegen Qigong-Gruppen, Falun Gong, die Demokratische Liga Chinas, Beschwerdeführer, enteignete Bauern, Arbeitslose, Anwälte, Untergrundkirchen, Dissidenten, die Opfer des Erdbebens von Sichuan, die Unterzeichner der Charta 08, die Anhänger der Jasminrevolution, Tibeter, Uiguren und Mongolen - die Fälle häufen sich und die Tyrannei geht auf hohem Niveau weiter. Beim ersten Mord mögen noch die Hände zittern, aber je mehr man tötet, desto mehr ist man sich schuldig und umso behender schwingt man das Schwert - und mit jedem Todesstreich steigen die Bilanzen der Wirtschaft nur immer höher.
Man könnte sagen: Ohne das Tiananmen-Massaker keine Reformpolitik, die uns lehrte, statt unser Land das Geld zu lieben. Ohne die dunklen Machenschaften korrupter Spekulanten keine rasante Expansion der Städte, keine leerstehenden Immobilien und keine wegen minderwertiger Bauprojekte verjagten oder geflohenen Beamten und elende Profitgeier.
Die Henker triumphieren, weil das ganze Land zu ihrem Sklaven geworden ist. Es wird willkürlich geplündert, verwüstet, die Erschütterungen gehen bis ins Mark. Und zu den ausländischen Investoren wird gesagt: Immer hereinspaziert, kommt und errichtet bei uns Fabriken, macht Geschäfte, baut Hochhäuser und knüpft Netzwerke. Solange ihr nicht den Finger in die Wunde legt und über Menschenrechte sprechen wollt, könnt ihr tun und lassen, was euch beliebt. Bei euch mag es Gesetze geben und eine öffentliche Meinung, aber hier könnt ihr euch mit uns im Schlamm suhlen. Kommt und verschmutzt unsere Flüsse, verpestet unsere Luft, vergiftet unser Essen und unser Grundwasser; kommt und bedient euch  unserer billigen Arbeitskräfte und lasst sie Tag und Nacht wie Maschinen am Fließband schuften. Je mehr ihr dafür sorgt, dass sich die Chinesen durch die Umweltverschmutzung körperliche und seelische Krebsgeschwüre zuziehen, desto höher wird euer Profit sein. In dieser größten Müllkippe der Welt stecken die besten Geschäftsmöglichkeiten.
Unter dem Deckmantel des freien Handels machen westliche Konsortien mit den Henkern gemeinsame Sache, häufen  Dreck an. Der Einfluss dieses Wertesystems des Drecks, das den Profit über alles stellt, nimmt weltweit überhand. Wer in China über Geld und Beziehungen verfügt, lässt sein gebeuteltes und vergiftetes Land einfach hinter sich und geht ins Ausland, wo er sich in einer sauberen Umbebung sonnt und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit genießt. Vielleicht tritt er sogar in die Kirche ein, um den von anderen Diktatoren der Geschichte ans Kreuz genagelten Jesus um Vergebung seiner Sünden zu bitten.
Immer mehr Chinesen werden feststellen, dass es auch im demokratischen Westen weder Gerechtigkeit noch Gleichheit gibt und auch dort habgierige Funktionäre und andere Profitgeier sich schamlos nach dem Muster "Dem Sieger gehört die Beute" verhalten. Und so werden sie bald alle diesem Beispiel folgen, und in einer nicht allzu fernen Zukunft wird es an allen Ecken der Welt voll von chinesischen Betrügern  sein, die um jeden Preis ihre Heimat verlassen wollen.
Das Wertesystem dieses Imperiums ist längst in sich kollabiert und wird nur noch vom Profitdenken zusammengehalten. Gleichwohl ist diese üble Fessel des Profits so weitreichend und verschlungen, dass sich die Freie Welt der wirtschaftlichen Globalisierung noch ausweglos in ihr verheddern wird.
Seit jener Nacht, in der es vor 23 Jahren ein Blutbad angerichtet hat, ist das Schicksal dieses Reichs jedoch besiegelt: Es muss auseinanderbrechen. Die vom neunjährigen Lü Peng angeführte Liste der Opfer des Massakers und der von Ding Zilin angeführte Widerstand der Mütter vom Tiananmen werden zu einem epochalen Lehrstück werden. Der vor nicht allzu langer Zeit verstorbene V
áclav Havel sprach einmal von der Macht der Machtlosen. Das Einzige, was den verzweifelten Machtlosen Chinas unter wechsenden Diktatoren bleibt, ist die mündliche Überlieferung der Wahrheit - auch das steht ganz in unserer Tradition. Als der erste Kaiser von Qin die Große Mauer errichten ließ und sich dabei nicht um den Tod der Arbeiter scherte, griff das machtlose volk zu der bis heute überlieferten Parabel "Die junge Meng Jiang weint an der Großen Mauer", um ihn auf ewig zu verfluchen. Die Große Mauer mag bis heute als beliebtes Touristenziel fortbestehen, in der Geschichte von Meng Jiang ist sie längst unter den Tränen einer jungen Frau eingestürzt.
Konfuzius stand einst an einem reißenden Strom und musste tief seufzen - ein Sinnbild für die schmerzlichen Erinnerungen an vergangene Zeiten und ein Sinnbild für den Schmerz angesichts der folgenden Todesnachrichten: Am 21. Juni 2003 verhungerte im Bezirk Jintang der Stadt Chendu ein dreijähriges Mädchen namens Li Siyi. Ihre Mutter war wegen des Verdachts auf Drogenmissbrauch festgenommen und für siebzehn Tage inhaftiert worden. Das kleine Mädchen überließ man einfach seinem Schicksal. Am 13. Oktober 2011 wurde die zweijährige Wang Yue in der Stadt Fushan, Provinz Guangdong, von einem Auto erfasst und blieb auf der Straße liegen. Das Mädchen lebte noch. Zwei weitere Lastwagen überrollten es. Auf Videos, die Augenzeugen mit ihren Handys aufnahmen und ins Internet stellten, sieht man, wie sieben Minuten vergingen, in denen achtzehn Personen achtlos und, ohne Hilfe zu leisten, an dem Mädchen vorüberliefen. Schließlich nahm sich ihr eine alte Müllsammlerin an und brachte sie ins Krankenhaus, wo sie starb.
Blut erkaltet schnell, und Herzen verhärten. Doch im Falle des neunjährigen Lü Peng kochte uns damals noch lange das Blut in den Adern.

Sieht so das Verhalten der modernen Chinesen aus, denen die Henker mit ihrer Wirtschaftstaktik das Gehirn gewaschen haben? Doch wer sind "die Chinesen"? In China ist man es gewohnt zu sagen: Ich bin aus Sichuan, ich bin aus Shaanxi, ich bin aus Guangdong, oder ich bin aus Peking. Und die Chinesen, die wie ich im Ausland leben, sagen, ich bin aus Amerika, ich bin aus Deutschland, ich bin aus Tibet, ich bin aus Rumänien. Wenn jemand aus Taiwan zu mir sagt, ihr Chinesen habt doch alle so eine Herrenmentailtät, dann würde ich antworten: Das China, von dem du redest, hat mit meinem Sichuan nichts zu tun.
Im Altertum waren Tibet, Xinjiang, die Mongolei oder Taiwan für China Ausland. Als in der Tang-Dynastie Prinzessin Wen-cheng nach Tubo, dem damaligen Tibet, verheiratet wurde, war das eine ebensolche Sensation wie die Hochzeit einer jungen Frau aus Schanghai in der Republikzeit mit einem Amerikaner. Warum müssen sich Tibeter heutzutage immer wieder öffentlich verbrennen? Könnte Tibet einfach ein freies Land sein, das Grenzen mit Sichuan und Yunnan teilt, und nicht von einer fernen Diktatur in Peking unterdrückt wird, dann würde niemand aus diesem lebensfrohen Volk des Hochplateaus je einen Grund haben, sich ein solches Leid anzutun.
Dies menschenverachtende Imperium mit den blutigen Händen, die Ursache für so viel Leid in der Welt, dieser unendlich große Müllhaufen muss auseinanderbrechen. Damit keine unschuldigen Kinder mehr sterben, muss es auseinanderbrechen. Damit keine Mutter mehr schuldlos ihr Kind verliert, muss es auseinanderbrechen. Damit die hilf- und heimatlosen Wanderarbeiter Chinas nicht mehr als Sklaven der Welt schuften müssen, muss es auseinanderbrechen. Damit wir endlich in die Heimat unserer Ahnen zurückkehren und in Zukunft über ihr Erbe und ihre Gräber wachen können, muss es auseinanderbrechen. Dieses Großreich muss auseinanderbrechen, für den Frieden und die Seelenruhe der ganzen Menschheit - und für die Mütter auf dem Tiananmen, für die ich das folgende Lied geschrieben habe.

 

Die Mütter von Tiananmen
Mein Kind,
Wie geht es dir im Paradies?
Das Herz deiner Mutter
Blüht längst auf offenem Feld.
Verhallt sind die Schüsse, das Blut getrocknet.
Mein Kind,
Komm schnell aus diesem Traum zurück.
Mein Kind,
Friert es dich im Jenseits?
Dicht fallen die Schneeflocken,
Und färben das Haar deiner Mutter weiß.
Die Ströme fließen, aber die Tränen sind versiegt.
Mein Kind,
Bist du im Jenseits einsam?
Mutter,
Mit wem sprichst du dort vor dem Fenster?
Bitte wärme dein Kind
Mit dem Lichte der Laterne.
Endlos ist die Welt der Menschen, zartgrün das Gras auf den Gräbern.
Mutter,
Was nutzt dein Klagen?

 

"Streitende Reiche" oder "Kämpfende Staaten": Periode ca. 5. Jht. bis 3. Jht. v.u.Z., mit einer Vielzahl kleiner Territorien im Bereich des heutigen Mittel- und Ostchinas. Mehr



















Qin Shihuang: "Erster Kaiser von Qin" und erster Reichseiniger (Regierungszeit 221-210 v.u.Z.); in der chinesischen Geschichtswahrnehmung bekannt für seine Grausamkeiten. Nach seinem Tod Bauern- und Adelsaufstände, die zur Übernahme durch Han-Dynastie führen.
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Mao Tse-tung: 1945 Gründung der Volksrepublik China, gest. 1976.
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Wille des Himmels: Religiöse Grundlage der Zhou (ab 11. Jht. v.u.Z., s.u.);
Bestandteil des Konfuzianismus ab Menzius (3. Jht. v.u.Z.); Menzius rechtfertigt Rebellion und Tyrannnenmord, der Tyrann hat den Auftrag des Himmels verloren.
"Revolution" auf chinesisch heißt "ge-ming" und bedeutet "Wechsel des Auftrags".
Deng Xiaoping: Machthaber 1978-1997;Beginn der Öffnung nach außen, Einführung kapitalistischer Elemente; verantwortlich für Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989.

König Wen von Zhou: 1. Herrscher der Zhou-Dynastie, 11. Jht. v.u.Z.; "Ehre" und "Wille des Himmels" (="richtiges Handeln") bestimmen die Organisationsform des Königsstaates. Wen wird von Konfuzius als vorbildlicher Herrscher genannt.
Trick der Südreise: Die Reise des Kaisers in den Süden bringt traditionell den "Segen des Himmels"




Falun Gong: Religiöse Bewegung, basierend auf Qigong, seit 1999 in China verboten.
Charta 08: Chin. Manifest von 2008, das Demokratisierung und Gewährung von Menschenrechten fordert. Der Dissident Liu Xiabo wurde anlässlich der Charta 08 festgenommen und zu 11 Jahren Haft verurteilt; 2010 erhielt er den Friedensnobelpreis.
Jasminrevolution: Protestbewegung in China 2011 im Anschluss an die arabischen Revolutionen, beginnend mit Tunesien (2010/11).
Uiguren: Türkisch-mongolische Volksgruppe in Xinyiang, einer "autonomen Region" zwischen Tibet, Kasachstan und Mongolei
s.
Karte ethno-linguistisch

 


 






















Tang-Dynastie: 6.-10. Jht.; die Hochzeit war Bestandteil einer Heiratspolitik, um die Nachbarschaft mit Tibet zu stabilisieren. Mehr