Klimawandel, Kriege, Ausbeutung, Artensterben - bringt das Großhirn einen Vorteil für die Gestaltung der Zukunft?
Die Ratte Mensch
12 Stunden einer Reise
Samstag, 14.11.15, 9:15: Im Bahnhofskiosk Mannheim kaufe ich mir eine International New York Times, bevor ich mit meiner Frau in den ICE nach Berlin steige, wo wir ein Wochenende verbringen wollen.
9:45: Auf der ersten Seite ein blauer Eisberg (im Dezember soll die nächste UN-Klimakonferenz in Paris stattfinden). Ein Wissenschaftler wird interviewt, der die Beschleunigung der Gletscherschmelze in Grönland und der Antarktis untersucht. Er sagt, die Forscher seien sich einig, dass die Totalschmelze mit 70 m Meeresspiegelerhöhung schon heute unvermeidbar geworden sei , die offene Frage sei nur, ob dies in zehntausend Jahren oder bei seinen Enkeln stattfinde (1). Er wolle einst sterben mit dem Bewußtsein, alles getan zu haben, um dies herauszufinden.
10:15: Die Skyline von Frankfurt (Mainufer 88 m Meereshöhe) zieht vorbei. Auf Seite drei der New York Times wird berichtet, dass Schweden mit den bisher bereitwillig aufgenommenen Flüchtlingen (bis dato 190 000) nicht mehr zurechtkäme. Um für die Kosten aufzukommen, würden sie das Entwicklungshilfebudget kürzen. Kommentar der New York Times: Sie unterstützten die Jungen und Wohlhabenden (zumindestens hätten die Angekommenen ihre Schlepper bezahlen können) und nähmen dafür den Ärmsten. Schweden hätte sich selbst in diese Ecke manövriert, da die rechtspopulistischen fremdenfeindlichen "Schwedendemokraten" politisch verfemt worden seien und darum nur das Gegenteil, eine "Willkommenskultur" politisch korrekt sein könne (2).
11:30: Und noch ein Artikel über die Flüchtlingskrise: Der "Dschungel" von Calais (5 m Meereshöhe). Dort hausten aktuell in einer prekären Zeltstadt knapp 5000 Flüchtlinge, die alle über den Ärmelkanal nach Großbritannien wollten. Der französische Staat betreue sie kaum, selbst die Essensversorgung käme ausschließlich von Hilfsorganisationen. Kommentar der New York Times: Dies sei eine aktive Politik Frankreichs, mit diesen Signalen bräuchten sie nicht die Grenzen zu schließen, um nicht von Asylsuchenden überrannt zu werden (3).
12:00 Göttingen. Ein Passagier mit einer aktuellen Zeitung steigt zu: Am Vorabend habe eine Serie von Attentaten in Paris stattgefunden. Am Folgetag wird man wissen, dass die Anschläge, zu denen sich der "Islamische Staat" (IS) bekennt, 129 Tote forderten; von den acht Attentätern wurden drei als französische Staatsbürger, einer als Belgier und einer als mit syrischem Pass über die Balkanroute gekommener "Flüchtling" identifiziert.
13:15: Auch zu den kriegerischen Konflikten im Nahen Osten weiß die New York Times etwas: Die aktuellen Lufteinsätze der USA gegen den IS trage nicht automatisch zur Stabilisierung der Region bei; die Türkei schätze deren destabilisierenden Einfluss auf die Kurden, und Assad würde neben der militärischen Unterstützung durch Russland gegen die oppositionellen syrischen Truppen durch die Schwächung des IS gestärkt. Der doppelte Stellvertreterkrieg (Schiiten [Iran] gegen Sunniten [Saudi-Arabien] und Russland gegen USA) in Syrien sähe keine schnelle Lösung.
15:00: Berlin (36 m Meereshöhe): Wir laufen vom Brandenburger Tor auf der Ebertstraße in Richtung Potsdamer Platz. Man hört nur fremde Sprachen. Wir machen uns den Spaß und zählen die uns entgegenkommenden Passantengruppen (Touristen und Berliner können wir nicht unterscheiden): Erst nach acht ausländischen Idiomen hören wir wieder einen deutschen Satz.
16:15: Der Potsdamer Platz besteht aus einem Ring von etwa zehnstöckigen Nachwende-Hochhäusern, die von einer zeltartigen Glaskuppel überwölbt werden. So ist man vor Regen geschützt, aber der Platz hat Außentemperatur, wohl um die 12 Grad. In der Mitte ist ein bereits für den Winter entleertes Wasserbecken, drum herum ein Vollkreis von Cafes und Restaurants, die meisten mit Gasstrahler im Außenbereich. Wir wählen das einzige ohne Strahler und bestellen Kaffee und ein Stück Mohnkuchen. Schräg gegenüber an der Fassade des Sony-Gebäudes läuft ein Großbildschirm und zeigt Naturbilder: Tropenfische in einem Korallenriff.
Ich sage zu meiner Frau: "Hier sitzen wir und schauen uns das an, was wir gerade vernichten" (4). Wenn das sich als ökologischer Musterknabe fühlende Deutschland es nicht einmal schafft, die Gasstrahler durch Kohlendioxid-Abgaben aus dem Markt zu preisen oder zu verbieten, während die EU Staubsauger, die so schwach sind, dass sie nicht mehr saugen, mit dem Ökolabel "A" versehen will und gleichzeitig TTIP (5) verhandelt, das die globalen Verkehrsströme weiter steigern soll und künftige strengere Umweltgesetze vor Schiedsgerichte zerren wird - so sagen wenigstens die Gegner - wie sollen die Eisberge am Schmelzen gehindert werden?
Beim Gehen informiere ich den Kellner, dass wir sein Cafe ausgewählt hätten, weil es keine Gasstrahler habe - er lächelt höflich, wie er wohl immer zu Kunden lächelt.
17:30: Wir flanieren auf der Prachtmeile "Unter den Linden".
Der Mensch war evolutionsbiologisch die längere Zeit eine Ratte. Diese wurde wesentlich von der Amygdala (6) gesteuert, dem Hirnteil, der Emotionen erzeugt und konditioniert erlernt. Die Amygdala wertet das Hier und Jetzt stärker als das Anderswo und Später - das war zum Überleben zielführend. Das Großhirn kam erst vor Kurzem dazu.
Die Ratte hat, durch den Menschen verbreitet, in verschiedenen Weltgegenden viele bodenbrütende Vögel durch Auffressen deren Eier ausgerottet. Dazu kann sie nichts.
Siegesstele des assyrischen Königs Asarhaddon über die Feldzüge nach Ägypten, errichtet 671 J. v. u. Z. (Pergamon-Museum Berlin) Ägyptische und syrische Kriegsgefangene schauen zu der übergroßen Siegerfigur hoch. Die Runenschrift verkündet unter anderem: "Bei meinen Feldzügen gegen die ägyptische Armee habe ich täglich ohne Unterlass ein furchtbares Blutbad angerichtet." August 2015 sprengte die IS die im heutigen Syrien gelegene, seit über 8000 Jahren besiedelte Ruinenstadt Palmyra. x |
"Der Mensch hat die Atombombe mit dem Großhirn erfunden und mit der Amygdala eingesetzt." sage ich zu meiner Frau. "Wenn der Mensch es nicht fertig bringt, das Großhirn schneller zur Lösung der globalen Probleme einzusetzen, als er sie mit demselben Großhirn schafft, sieht es schlecht aus mit der vielgerühmten Entscheidungsfreiheit, die etwa aus der bewußten Zukunftswahrnehmung abgeleitet wird."
Wenn in x Jahren die Hälfte der Menschheit durch Krieg um Ressourcen und durch Hunger gestorben sein wird, so wie vor 500 Jahren das Hochkulturvolk auf der Osterinsel, wird die Geschichte gezeigt haben, dass Homo sapiens doch immer eine Ratte geblieben ist.
18:00: Eine Mannheimer Freundin hatte meiner Frau erzählt, in eine weitere Kaserne seien kürzlich über 200 Flüchtlinge eingewiesen worden (Sechzehntausend sind bereits in der Stadt untergebracht). Einen Tag später waren noch 160 da, zwei Tage später 110, der Rest untergetaucht. "Was hat deine Freundin mit der Information gemacht?" "Ich weiß es nicht." "Heute gibt es Internet und soziale Medien. Wir haben hier eine freie Presse, man kann Leserbriefe schreiben und mit ein paar Klicks Abgeordnete kontaktieren. Und natürlich miteinander reden. Wenn wir Probleme sehen, ist der erste Schritt, sie mit dem Großhirn zu erkennen (auch wenn die Amygdala sagt "Wir schaffen das", weil sie uns mit Hilfsbereitschafts-Emotionen füttert), der zweite Schritt, sich eine rationale und bewußte Meinung darüber zu bilden, und der dritte Schritt, sich für eine Aktion zu entscheiden. Ich meine, die soziale Vernetzung unserer Intelligenzen ist der einzige Ausweg aus der evolutionär vorgeprägten emotionalen Steuerung in Kombination mit den zerstörerischen Großhirn-'Erfolgen'. Dies gilt für Flüchtligsströme genauso wie für die Steuerung von Krieg und Frieden oder von Fairness und Ausbeutung, die Gestaltung der Menschenrechte, der Globalisierung, des Ressourcenverbrauchs und des Erhalts unserer Biosphäre. Für nahezu alle heutigen Probleme sind 'technische' Lösungen bekannt, stets hapert es an der Umsetzung durch die Gesellschaft."
20:00: Wir sitzen bei einem "Krimi-Dinner". Dabei spielen einige Schauspieler mit aktiver Unterstützung der zahlenden Gäste einen Plot im Jahr 1959. Jeder Gast erhält vorher eine Rolle mit einem geheimen Auftrag. Ich bin Geheimdienst-Major der Amerikaner und soll auf Nachfrage des Detektivs sagen "Keiner hat die Absicht, eine Mauer zu bauen". Als mein Part kommt, hole ich aus: "Liebe Berliner! Heutzutage arbeiten die Geheimdienste sehr zuverlässig. Wir wissen alles über die Russen und sie über uns. So können wir sicher sagen, dass in den nächsten Jahren kein atomarer Zwischenfall auftreten wird, und natürlich wird niemand eine Mauer bauen (7). Liebe Berliner! Wenn Sie nach 14 Jahren kaltem Krieg in Angst leben, darf ich Ihnen eine Botschaft des amerikanischen Präsidenten übermitteln: 'Wir schaffen das!'"
Das Raunen im Saal verstummt - warum lacht kaum einer? (8)
21:15: Der Mörder war übrigens der Chauffeur, heimlicher Verlobter der Tochter einer berühmten Schauspielerin. Er hatte seine prospektive Schwiegermutter aufs Korn genommen, da er zu Recht vermutete, diese würde der Beziehung nie zustimmen.
Ein rein emotionales Motiv - die Ratte!
Erläuterungen
(1) Die Erhöhung des Meeresspiegels betrug 1900-1990 etwa 1,2 mm/Jahr , von 1990 bis 2000 3,2 mm/Jahr. Bei linearer Fortschreibung wären 64 m in 20 000 Jahren erreicht, bei einer Verdoppelung der Abschmelzrate alle 20 Jahre etwa um 2170.
Küstenregionen sind viel früher bedroht: Dhaka (Bangladesch, 7 Mio. Einwohner) 2 m, Bangkok (Thailand, 8 Mio.) 5 m, Jakarta (Indonesien, 10 Mio.) 8 m, New York (USA, 8 Mio.) 10 m, London (Großbritannien, 8 Mio.) 15 m, um nur einige große Städte zu nennen.
Selbst 20 000 Jahre sind relativ kurz in Bezug auf die Menschheitsgeschichte. Vor ebendieser Zeit rottete der die Welt erobernde Homo sapiens in vielen Regionen die meisten Großtiere aus (z. B. in Australien, Nord- und Südamerika, teilweise in Eurasien, sodann in Madagaskar, Neuseeland) - zumindest ist dies ein von der Wissenschaft ernsthaft erwogenes Szenario. S. auch "Artensterben und Mensch". Natürlich wußte der Mensch damals nicht, was er tat, oder doch? Zahllose Höhlenmalereien von Großtieren aus dieser Zeit zeigen jedenfalls, dass er sich gedanklich intensiv mit diesen Tieren auseinandersetzte.
(2) Die "Schwedendemokraten" fordern eine rigide Einwanderungs- und Asylpolitik. Sie gewannen in der Reichstagswahl 2010 5,7 %, in der EU-Wahl 2014 9,7 % und in der Reichstagswahl 2014 12,9 % der Stimmen.
Schweden hat bisher mit Deutschland absolut und bezogen auf die Gesamtbevölkerung die meisten Migranten aufgenommen.
(3 Frankreich hat durch seine Kolonialvergangenheit eine lange Erfahrung mit vor allem islamischen Einwanderern. In der Parteienlandschaft wird deren Ablehnung durch den "Front National" vertreten. Die Partei gilt als rechtsextrem und fremdenfeindlich. Im Gegensatz zu den "Schwedendemokraten" in Schweden wird sie in Frankreich als politische Kraft akzeptiert. Sie erreichte bei der Parlamentswahl 2012 13,8 %, bei der EU-Wahl 2014 24,8 % (stärkste Partei) und bei der Departementswahl 2015 25 %. Allgemeine Zahlen zur EU-Wahl 2014 s. auch "EU-Wahl 2014"
(4) Ein Drittel der tropischen Korallenriffe wird als zerstört oder gefährdet eingestuft. Als Hauptursache gilt die Meereserwärmung.
(5) TTIP: Transatlantic Trade and Investment Partnership (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft), gegenwärtig in Verhandlung zwischen EU und USA. Die Befürworter nennen als Ziele die Vereinfachung des Handels und der wirtschaftlichen Globalisierung, die Gegner kritisieren letzteres, sowie die Unterordnung gegenwärtiger und künftiger kultureller, sozialer und demokratischer regionaler Werte unter das Diktat der transnationalen Großindustrie. S. auch "Das europäische Selbstverständnis und TTIP"
(6) Die Amygdala ist eine Region des Gehirns und entwickelte sich wohl schon in den Amphibien, den ersten Vierbeinern. Sie ist heute bei den Säugetieren und auch beim Menschen Teil des sogenannten "limbischen Systems", das die Emotionen steuert. Im Text wird der Begriff "Amygdala" verkürzt für das emotionale Steuerungsystem verwendet. S. auch "Denken wir mit dem Bauch?"
Ratten sind wie Menschen Gruppentiere und verteidigen ihr Territorium.
(7) Während der Kubakrise 1962 standen sich russische und amerikanische Atom-U-Boote schussbereit gegenüber, die Mauer in Berlin wurde 1961 gebaut.
(8) Der Satz der Bundeskanzlerin Merkel "Wir schaffen das" wurde zum geflügelten Wort. Die einen sahen darin den Ausdruck der humanitären Hilfe ("Asyl kennt keine Obergrenze"), die anderen die Selbstaufgabe des Rechtsstaates durch Hinnahme des Kontrollverlustes über die Landes- bzw. EU-Außengrenzen.