Das Reich der Mitte - eine potente Mutationsvariante der kulturellen Evolution
China und Europa - die geschichtliche Entwicklung im Vergleich
Teil 3: Von der Qing-Dynastie zur Gegenwart
9. Qing-Dynastie (Mandschus) (1644-1912)
Die Mandschuren begannen als zwar sinisiertes, aber fremdes Volk ihre Herrschaft mit Massakern, einer Rassentrennung (getrennte Viertel in den Städten), der bei Todesstrafe geforderten Zopfpflicht (1645), und (be)handelten die Bauern als Sklaven. Später suchten sie das chinesische Beherrschungssystem besser zu nutzen, hielten die Agrarsteuern niedrig, um die Bauern zurückzugewinnen, und beschäftigten als Schirmherren die gebildete Schicht mit literarischen und klassischen Studien. Gleichzeitig forderten sie unbedingten Gehorsam, rechtfertigten ihren Machtanspruch mit "heiligen Anweisungen" und führten eine Zensur ein (1687), die in einer "literarischen Inquisition" mündete (1774-1789), wobei über zehntausend Werke auf den Index gesetzt, und deren Autoren mit Sanktionen von Verbannung bis zur Todesstrafe belegt wurden.
In Europa befreite sich die Gesellschaft in der sogenannten Aufklärung vom Erkenntnisprimat der Kirche. Bacon begründete den Empirismus, Descartes den Rationalismus, Hobbes und Locke Vertragstheorie und Naturrecht. Man hatte Informationen über China und war vom Fehlen einer Kirche und eines Erbadels begeistert. Leibniz beschrieb die Welt als harmonisch zusammengesetzte Einheiten, die eine vernünftige Ordnung besäßen, welche der sittlich freie Mensch zu erkennen suchen solle. Dem aufmerksamen Leser mag aufgefallen sein, Leibniz hatte Anleihen aus dem Konfuzianismus genommen. Kant formulierte die Grenzen der Vernunft und die sittliche Autonomie der Einzelperson.
Um die zweite Frage der Eingangsseite, warum Japan im Gegensatz zu China dem imperialen Druck im 19. Jh. standhalten konnte, ja sich sogar selbst als Großmacht etablierte, behandeln zu können, seien an dieser Stelle einige Einzelfakten der japanischen Vorgeschichte genannt.
- 6. - 13. Jh.: Buddhismus und Beamtenwesen nach chinesischem Muster wurden übernommen. Konfuzianismus war bekannt und wurde modifiziert. Shintoismus als polytheistische Religion mit dem Tenno (Kaiser) als Oberhaupt. Feudalistisches System mit dem Shogun als oberstem Verwalter und den Daimyos als regionalen Fürsten.
- Unter den Mongolen hatte China zweimal eine Invasion versucht (1274 und 1281), das zweitemal mit 140 Tausend Mann und 4400 Schiffen. Beidesmal hatte ein Sturm (Kamikaze = göttlicher Wind) einen Teil der Flotte zerstört; die Invasionen wurden von den Samurai-Rittern abgeschlagen.
- ca. 100 Jahre bis 1573: "Zeit der großen Wirren", das Land war in Territorien zerfallen, der Tenno hatte keine Macht.
- 1543: Beim Schiffbruch einer chinesischen Dschunke mit portugiesischer Besatzung wurden auch zwei Vorderladergewehre mit Zündschloss geborgen. Die Japaner nutzten diese erste mögliche Gelegenheit, sich deren Funktion vorführen zu lassen, kauften sie durch Aufwiegen gegen Silber und bauten sie umgehend nach. Als Insel- und Seefahrervolk waren sie sich des Auftretens der portugiesischen Schiffe als potenzieller Gefahr bewußt, und gleichzeitig begierig, Neuheiten aufzunehmen.
- 1573: Der Daimyo Nobunaga einte Japan militärisch. Er erweiterte das Fernstraßennetz, ordnete Handel, Münz- und Marktwesen. Er baute bereits stahlabgedeckte Kriegsschiffe mit Kanonen, und rüstete erstmals einen Truppenverbund mit Vorderladern aus, im Einsatz gegen reitende Samurai (wiederum ein Beispiel für frühe aktive Übernahme fremder Technologien).
- 1600 strandete ein niederländisches Schiff; der englische Navigator und der holländische Kaufmann wurden als Berater eingestellt. Politische Informationen über Europa (Reformation, Inquisition, Kriege) wurden gesucht und verwertet (die katholischen Jesuiten erzählten nur die halbe Wahrheit) (Gesundes Mißtrauen, möchte man sagen). Die europäische Navigationskunde wurde beschrieben, mechanische Uhren nachgebaut. Um 1620 wurde ein Segelschiff an die spanischen Philippinen geliefert, das leistungsfähiger war als europäische Schiffe.
- Der Seehandel wurde mit dem "Roten Siegel" unter staatliche Förderung und Kontrolle gestellt. Es bestanden offizielle Handelsbeziehungen zu den Philippinen, Taiwan, Annam (Nordvietnam), Korea - nicht mit China, das sich verweigerte, s. weiter unten. Man entdeckte, dass die Portugiesen chinesische Seide aus Macao um den Faktor Drei teurer anboten als es dem Direkteinkauf entspräche. Handel wurde von Japan professionell betrieben.
- Die aggressive und aufrührerische Missionierungsarbeit der Jesuiten (die auch Seekarten an die spanischen Militärs lieferten, Handelsströme an "bekehrte" Daimyos steuerten, sowie Sklavenhandel betrieben [30-40 Tausend junge Japanerinnen wurden aus dem Stützpunkt des Jesuitenordens Nagasaki eingeschifft und verkauft]) führte über ein nicht beachtetes Abschiebeedikt (1612) letzlich 1640 zur hermetischen Abschottung des Inselreiches. Allein die Niederländer durften auf einer künstlichen Insel bei Nagasaki einen streng abgeschirmten Stützpunkt behalten.
Japan wehrte sich frühzeitig und nachhaltig, mit allen verfügbaren Mitteln, gegen als zerstörerisch angesehene Einflüsse.
Außenpolitisch agierten / reagierten die Qing als ehemaliges Steppenvolk wie eine Kontinentalmacht. Einerseits eroberten sie in den ersten 100 Jahren ihrer Herrschaft Taiwan (von wo sie die Niederländer vertrieben) , Gebiete nördlich der Manschurei im Amurgebiet, die Mongolei, das islamisch besiedelte Tarimbecken (s. Karte: Huibu), rotteten die Dsungaren praktisch aus, und machten sich das lamaistische Tibet durch eine Mischung aus Politik und militärischer Stärke gefügig. Um 1750 hatte das Qing-Reich seine jemals größte Ausdehnung.
Die Ausdehnung des Qing-Reiches 1759; Quelle: Jacques Gernet, "Die Chinesische Welt", 1988 Die Karte zeigt grau die Gebiete, die heute nicht mehr zu China gehören, und in Fettdruckgrenzen die Gebiete, die von nicht- chinesischen Völkern bewohnt werden (die Manschurei ist als "chinesisch" eingestuft). |
Andererseits veranlasste sie ein zunehmendes chinesisch-japanisches Piratentum, das auch (Schmuggel-)Handel mit Japan und den Europäern betrieb, dazu, die Küsten abzuschotten. Sie wurden evakuiert und Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, um den Piraten die Versorgungsbasis zu nehmen.
Diese Position - größte imperialistische Macht Asiens, aber desinteressiert an maritimen Geschehnissen - erklärt ihre Sorglosigkeit und - in der Rückschau naiv anmutende - Überheblichkeit gegenüber den europäischen Kontakten, denen sie sich ausgesetzt sahen.
Europäische Fortschritte in Schiffstechnik, Navigation und Bewaffnung erlaubten eine profitable Ausdehnung des Welthandels, wobei sich Portugal, Spanien, Niederlande und England zeitlich gestaffelt Konkurrenz machten. Katholische Missionierung, Waffengewalt und vorteilhafter Handel arbeiteten Hand in Hand.
Quelle: Jacques Gernet, "Die chinesische Welt", 1988 |
Das halbe Jahrhundert von etwa 1750-1800 bot eine scheinbare Wirtschaftsblüte. Aufgrund des inneren Friedens wuchs die Bevölkerung explosionsartig um das zweieinhalbfache auf etwa 350 Mio. Einwohner (zum Vergleich Europa: Wachstum um das 1,3-fache auf 190 Mio. Einwohner). Der Außenhandel mit Tee, Porzellan, Lacken und Seide war positiv, sodass Silber ins Land floss; allerdings betrug der Steueranteil des Außenhandels am Staatseinkommen nur etwa 2% (Was das geringe Interesse der Regierung am Seehandel mit erklären mag; hier wurde ein sich rasant entwickelnder neuer Machtfaktor verschlafen).
In Europa hatte die Industrielle Revolution begonnen. Gussstahl, Porzellan, mechanische Spinnmaschine, Hinterlader, Dampfmaschine, mechanischer Webstuhl, Schaufelrad-Dampfschiff beschleunigten das Wirtschaftswachstum. Es herrschte ein allgemeiner Fortschrittsglaube. Ein Arbeiterproletariat begann zu entstehen, die sozialen Spannungen wuchsen. Der Absolutismus wurde von Republik- und Demokratiesystemen abgelöst (Glorious Revolution in England 1688, Amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776, Französische Revolution 1789).
Im abgeschotteten Japan lebten zu dieser Zeit etwa 30 Mio. Menschen, davon eineinhalb Mio. in Edo (Tokyo). Damit war diese Stadt dreimal größer als Paris oder London. Es gab etwa 250 Daimyo-"Schlossstädte" mit unter 30 Tausend Einwohnern, sowie circa 20 größere Handelsstädte. Zwei Mio. gebildete Samurai-"Beamte" verwalteten das Land, ihre Herren, die Daimyo, mußten abwechselnd jedes zweite Jahr in Edo verbringen, was der zentralistischen Kontrolle diente. 85% der Bevölkerung waren Bauern. Der Güter- und Personenverkehr zwischen den Hauptzentren Edo und Osaka/Kyoto wurde über das Meer abgewickelt.
Durch die (Nach-)Erfindung des weißen Porzellans durch Böttcher (1709) wurde die Handelsbilanz mit den Niederländern stark negativ, die Importe mussten eingeschränkt werden, da der eigene Silberbergbau auch zu versiegen begonnen hatte. Die Isolation brachte wirtschaftliche Probleme. Bei einer Hungersnot 1732 starben zweieinhalb Mio. Menschen.
In derselben Zeit (ab 1750) brachen Revolten der islamischen Völker und ethnischer Mindereiten im Nordwesten, im Süden und auf Taiwan aus, die blutig niedergeschlagen wurden.
Das autokratische und zentralistische Kontrollsystem über das riesige Reich, eine Flut von Vorschriften, die Fallen boten, eine Zunahme der Korruption am Kaiserhof und in den Provinzen schwächten die Leistung der Verwaltung. 1849 sollte sogar der Handel auf dem Kaiserkanal eingestellt eingestellt werden. Die kriminellen Unterschlagungen der Mittel für die Deichsanierungen führten ab ca. 1800 zu sieben großen Überschwemmungen des Gelben Flusses, der 1855 sogar seinen Lauf änderte. Dies, die schlechter werdende Bewirtschaftung der Felder und die weiter steigende Bevölkerung (s. Grafik oben) verursachten Hungersnöte. Bauernunruhen flammten auf.
1850 begann der Taipingaufstand (Taiping = "Großer Friede"). Beseelt von einem mystischen Egalitarismus (von protestantischen Glaubensinhalten inspiriert), wurden auf Basis der bestehenden Dorfhierarchien paramilitärische Familienorganisationen eingeführt, Privatbesitz und Privathandel abgeschafft und das Land verteilt. Die Aufständischen eroberten im Süden etwa die halbe Fläche Han-Chinas, darunter Nanjing, wo sie ihre Hauptstadt einrichteten.
Weitere Aufstände brachen aus: Im Norden der der Geheimgesellschaft Nian (wohl aus den Weißen Lotus hervorgegangen), im Nordwesten und Südwesten revoltierten wiederum die Moslems sowie das nicht-chinesische Volk der Miao.
Der letzte Aufstand wurde erst 1878 niedergeschlagen; die Zahl der Opfer wird auf 20-30 Mio. Menschen geschätzt.
Quelle: Jacques Gernet, "Die chinesische Welt", 1988 |
Mitausgelöst wurde der allgemeine Niedergang der Wirtschaft durch ein außengesteuertes Ereignis: Die Zunahme des Opiumimports. Dem englischen, monopolartig organisierten Handel gelang es ab etwa 1820, seine durch steigende Teeimporte negative Handelsbilanz durch forcierte Exporte indischen Opiums umzudrehen. Innerhalb von 60 Jahren (bis 1880) verzwanzigfachte sich der Opiumstrom nach China auf 6500 Tonnen, während Silbergeld in zunehmendem Maß aus dem Land abfloss (Schätzungen liegen in der Größenordnung von 2-10 Mio. liang pro Jahr; 1 liang = 1 Silberunze = ca. 1-2 Silberdollar; entsprechend ca. 1000 Kupfermünzen). Durch die nationale Silberverknappung nahm der Geldumlauf ab, und stieg der Wechselkurs zu den Kupfermünzen auf über 2000. Da die Bauern Kupfergeld einnahmen, die Steuer aber in Silber bezahlen mußten, stieg diese effektiv um den Faktor Zwei. Eine finanzmarktgetriebene Rezession war die Folge.
Man schätzt, dass etwa jeder zehnte Chinese Opium konsumierte, und davon jeder zweite süchtig war. Opium hat sicherlich zur Verelendung Chinas im 19. Jh. beigetragen (1).
Die Kolonialmächte brachen den handelspolitischen Widerstand der Qing-Regierung mit Waffengewalt. Im 1. Opiumkrieg (1849-42, Großbritannien) und im 2. Opiumkrieg (1857-60, Großbritannien und Frankreich) mußte China Küstenstädte für den Handel öffnen, Hongkong an Großbritannien abtreten, einen niedrigen Importzoll akzeptieren (5 %), Textilimporte völlig zollfrei stellen, das Flussverkehrsnetz für alle ausländischen Schiffe öffnen und Kriegsentschädigungen von einigen 10 Mio. Silberdollar bezahlen.
Das britische Empire beherrschte durch maritimen Technologievorsprung (Schraubendampfer, Stahlschiff, Stahlkanonen) die Weltmeere, und nutzte die Früchte der industriellen Revolution (mechanisches Spinnen und Weben, Waffentechnik, Telegraf, Eisenbahn), um durch Welthandel reich zu werden, während sich die kontinentaleuropäischen Länder gegenseitig in Schach hielten.
Europäische wissenschaftliche und technische Literatur gelangte über die Niederländer weiterhin nach Japan. Takashima, Sohn des Vizegourverneurs von Nagasaki (wo die Niederländer ihren Insel-Stützpunkt hatten) sah die wirkungsvolleren Stahlkanonen (japanischer Stand der Technik war Bronze), und studierte die europäischen Verfahren. Als 1840 in China der Opiumkrieg ausbrach, empfahl er, die fremde Waffentechnik nicht zu verschlafen, und (wieder) hochseefähige Schiffe zu bauen. Die Regierung verdächtigte ihn, verbotenerweise das Land verlassen zu wollen, und das Ausland übermäßig zu bewundern, und warf ihn ins Gefängnis. Privatinitiative existierte, wenn auch in diesem Fall unter hohem persönlichen Risiko.
1853 tauchten vor Edo vier Stahl-Kriegsschiffe der USA auf, die (analog zu China) die Öffnung des Landes forderten. Es wurde ein Jahr Bedenkzeit gegeben.
Die Japaner erkannten das Risiko, ein Schicksal wie China zu erleiden, und beschlossen zu taktieren und gleichzeitig aufzurüsten. Die Außenwelt wurde realistisch wahrgenommen, und eine bestmögliche (Staats-)Schutzentscheidung getroffen.
Takashima wurde wieder aus dem Gefängnis geholt; seine Schüler hatten bereits die ersten Stahl-Hochöfen konstruiert, im Jahr 1858 wurden bereits 1700oC erreicht, Stahlkanonen für die Küstenbefestigung wurden gegossen.
Im selben Jahr wurden "ungleiche" (Zollregeln zu Gunsten der Westmächte) Handelsverträge mit USA und später mit anderen Ländern akzeptiert und abgeschlossen - die Periode der Isolation war beendet.
Die Übersetzung ausländischer Fachliteratur wurde forciert, Dolmetscher ausgebildet, westliche Instruktoren für die Marineakademie angeworben, Studenten nach Europa geschickt. Die Schwerindustrie wurde angekurbelt, es wurde mit modernstem Stand der Technik aufgerüstet.
1866 wurde das Shogunat abgeschafft, der Tenno übernahm die Politik und modernisierte weiter. So wurde das Vier-Stände-System abgeschafft, das Schulsystem verbessert und eine große Zahl ausländischer Berater engagiert. Die neue Verfassung von 1889 war eine konstitituonelle Monarchie absolutistischen Charakters, mit dem als göttlich angesehenen Tenno als Führer, der (wie in der deutschen Verfassung von 1871, die, neben Großbritannien, als Vorbild diente) weitreichende Vollmachten hatte. Man kannte das britische System, entschied sich jedoch für ein absolutistisches.
Japan verstärkte seinen Einfluss in Korea und begann China anzugreifen. Als der Krieg um Korea ausbrach, war sein militärischer Vorsprung bereits überwältigend (s. übernächster Absatz). Nach über 200 Jahren selbstgewählter Isolation wechselte Japan nahezu nahtlos in die Rolle des imperialistischen Agressors (analog den Westmächten).
Eine Dürreperiode in Nordchina (1876-79) kostete etwa 10 Mio. Menschenleben (was die extreme Verarmung zeigt).
Die imperialistischen Angriffe gingen weiter. Russland eroberte das Ili-Gebiet (s. Karte weiter oben: Dsungaren) und Regionen am Amur, Frankreich griff in Vietnam an, die Japaner verstärkten ihren wirtschaftlichen Einfluss (Freihandel) in Korea, was zum japanisch-chinesischen Krieg 1894-95 führte: China verlor seine Nordflotte und Taiwan, und mußte 200 Mio. liang zahlen (zum Vergleich: Die jährlichen Staatseinnahmen um 1900 betrugen ca. 100 Mio. liang). Russland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien annektierten Küstenterritorien als Kolonialbesitz.
1898 begann der Aufstand der Yihetuan (deutsch "Boxer"), die, fremdenfeindlich, Eisenbahnen, Fabriken, chinesische Christen, Händler und Missionare angriffen. Die Qing-Regierung entschied sich, die Bewegung zu unterstützen und erklärte den Westmächten den Krieg, der mit der Plünderung Bejings und einer Kriegsentschädigung von 450 Mio. Silberdollar endete. Russland nutzte die Gelegenheit, die Mandschurei zu besetzen.
Die Intellektuellen setzten sich mit der Schwäche des chinesischen Systems auseinander. Konfuzianisch orientierte wie Feng Guifen vertraten die Meinung "chinesisches Wissen als Grundlage, westliches Wissen für praktische Zwecke", d. h. hielten weiterhin an der Überlegenheit des vorhandenen politischen und sozialen Systems fest. Andere, mehr westlich orientierte, wie Wang Tao (der sich einige Jahre in Schottland aufgehalten hatte), versuchten die Vorteile der fremden Systeme zu analysieren. So beschrieb er das britische System als eines, in dem Beschlüsse gemeinsam gefasst würden und deshalb zur gemeinsamen und motivierten Aktion Aller führten.
Reale Reformen in Verwaltung (1905 wurde die konfuzianische Beamtenprüfung abgeschafft), Industrie und Handel griffen kurz, scheiterten oder wurden durch Palastintrigen abgebrochen, wie die "Reform der 100 Tage" von Kang Youwei (1898).
1905 gründete Sun Yatsen, westlich erzogen (Medizinstudium in Hongkong), mit Studenten die "Liga der Verbündeten" (Vorläufer der Guomindang, Chinesische Nationalpartei), die drei revolutionäre Hauptforderungen stellte: Beseitigung der Mandschu-Fremdherrschaft, Einführung einer Republik, Landverteilung und Kontrolle des Kapitalismus zur Verhinderung eines Proletariats.
Ein Aufstand der Liga 1911 scheiterte, davon unabhängige Militärrevolten lösten jedoch eine Sezessionsbewegung aus, die dazu führte, dass Sun Yatsen 1912 zum Präsidenten der Republik gewählt wurde.
In dieser "Republik", die keine war, übergab Sun Yatsen sofort die Präsidentschaft an den General der Nordstreitkräfte, Yuan Shikai, welcher das Parlament 1914 wieder auflöste und als Diktator regierte.
Tibet hatte das Machtvakuum 1912 genutzt, um seine Unabhängigkeit zu proklamieren (6).
Japan schlug Russland 1904-05 zur See und zu Land und erlangte das Protektorat über Korea und die Südmandschurei. Es wurde vom Westen als neue Großmacht anerkannt und schloss Freundschaftsverträge mit Frankreich und Russland.
Zur Frage (2) der Einführungsseite "China": Unter dem Druck der imperialistischen Westmächte wurde (Stand 1905) China zum Opfer und Japan zum Täter - worin mögen die Gründe liegen?
Eine wissenschaftliche Durchdringung ist dem Autor an dieser Stelle aus Mangel an fachlichen Informationen nicht möglich; möglich ist jedoch eine phänomenologische Gegenüberstellung gleicher und ungleicher Faktoren in Relation zu Europa.
- Größe: Japan hatte im 19. Jh. etwa ein Zehntel der Bevölkerungszahl von China (30 gegen 300 Mio.).
Möglicherweise erschwerte die Größe, bei gegebener Reise- und Informationstechnik, eine effektive Regierung. Die machtpolitisch wichtigen europäischen Staaten lagen im Größenbereich Japans. - Geographie: Die Insellage legt die Beschäftigung mit dem Meer (Navigation, Schiffsbau) nahe. In der Phase der "Entdeckungen" (16. bis 18. Jh.) waren alle hier relevanten europäischen Imperien (Portugal, Spanien, Niederlande, England) Küstenländer. Der "Schlüssel zur Macht" lag in dieser Zeit auf dem Meer.
Allerdings ist China auch ein Küstenstaat, und die Seefahrten im 14. Jh. zeigen, dass damals dieser Effekt auch wirkte. Siehe aber nächster Punkt. - Geographisch-kultureller Hintergrund: Die Mandschus, Herrscher der letzten 250 Jahre, waren original ein Steppenvolk. Sie waren sehr erfolgreich in der Eroberung des asiatischen Hinterlandes. Es wäre zu postulieren, dass diese Affinität zum "Festland" sich 250 Jahre lang gehalten hat.
- Religion/Soziallehre: Weder China noch Japan hatten ein monotheistisches, transzendentes Glaubenssystem. Der Buddhismus kam über China nach Japan, ebenso wie der Konfuzianismus. Ersterer dürfte im betrachteten Zeitraum keine entscheidungsrelevante Rolle mehr gespielt haben. Beim Konfuzianismus könnte dies anders sein. Die chinesische Ausprägung fixiert (dogmatisch) eine "natürliche Ordnung", sowie hierarchische Abhängigkeiten. In der japanischen Variante sind die Grundtugenden umdefiniert, interessanterweise kommen "Vertrauen in das eigene Ich" und "Gerechtigkeit" darin vor (2).
Es könnte postuliert werden, dass der Sozialregel-Rahmen des konfuzianisch orientierten China die Eigeninitiative gehemmt hat. Dagegen spricht allerdings, dass in den Blütezeiten Handwerk und Handel sehr wohl auf privater Basis erfolgreich abgewickelt wurden. - Die Falle der Gewohnheit: China war über viele Jahrhunderte "das Reich der Mitte", das mächtigste Reich der Erde. Die einzige (ständige) Bedrohung kam aus dem Norden durch die Steppenreiter, wofür - nicht nur symbolisch - die "Große Mauer" steht. Aus der Position der permanenten kulturellen Überlegenheit fiel möglicherweise die Wahrnehmung einer völlig neuen Gefahr schwer.
Das erklärt allerdings nicht die praktisch ständige Alarmbereitschaft der Japaner, die nach den beiden Mongolenangriffen im 13. Jh. nie einer externen Gefahr ausgesetzt waren. - Politisches System: China im 19. Jh. war ein autokratisches, intrigenbehaftetes System, das die Korruption förderte (Korruption wird als negativ für Kollektivziel-gerichtete Prozesse gesehen). Dem Autor liegen keine Informationen vor, die einen Vergleich mit Japan erlauben. Der zielgerichtete Umgang mit dem Problem der staatsuntergrabenden jesuitischen Missionare im 17. Jh. sowie mit den internationalen Vorgängen im 19. Jh. lässt jedoch auf eine geringere Korruptionsquote schließen.
Die "parlamentarische Demokratie" nach westlichem Muster war kein Unterscheidungsmerkmal, sie war in beiden Ländern nicht vorhanden. Wiederum fehlen dem Autor die Informationen, ob in Japan - im Vergleich zu China - politische Entscheidungsprozesse in einem kontrollierbar definierten Kreis und nach einem festgelegten Verfahren getroffen wurden. Die beiden Anfang des 20. Jh. mächtigsten europäischen Nationen (Großbritannien und USA) hatten parlamentarische Systeme. - Rechtssystem/Rechtssicherheit (Menschenrechte, Privateigentum): Nach "westlicher" Vorstellung ist dies eine wesentliche Voraussetzung für unternehmerisches Handeln, das wiederum Voraussetzung für einen dann steuerbaren Fortschritt ist. Aus den historischen Fakten (z. B. erfolgloser bzw. erfolgreicher Know-How-Erwerb der neuen Schwerindustrie / Waffentechnik in China bzw. Japan) wird geschlossen, dass in Japan die Verhältnisse erheblich günstiger waren.
10. Gründung der Republik bis Gegenwart (1912-2010)
Nach einer kurzen Zeit der Diktatur durch Yuan Shikai zerfiel nach dessen Tod 1916 China - wieder einmal - in die Territorien hunderter Kriegsherren. 1921 wurde die kommunistische Partei (KPCh) unter sowietischer Führung gegründet, die auch die Guomindang organisatorisch, mit Instruktoren und Waffen unterstützte. Beide Parteien waren diktatorisch und doktrinierend, wobei erstere auf die Bauern, letztere auf den Mittelstand und die Offiziere setzte. In einer nationalistischen Entrüstung über den Beschluss des Versailler Vertrages 1918, dass die ehemals deutschen Besitzungen an Japan fallen sollten, entzündete sich anlässlich einer Studentenprotestdemonstration die "Bewegung des 4. Mai" (1919), die den Marxismus, und nicht das westliche Demokratie-System, anstelle des jetzt als ineffektiv abgelehnten Konfuzianismus stellte.
Eine von der Sowietunion gewünschte Einheitsfront zur militärischen Einigung Chinas endete mit einem Blutbad unter den Kommunisten (1927), und führte in einen Bürgerkrieg zwischen den beiden Parteien. Bis 1937 wurden ca. eine Mio. Kommunisten getötet. In diese Zeit fällt der "Lange Marsch", in dem die "Rote Armee" mit 100 000 Menschen aus der eingekreisten Provinz Jinagxi während zweier Jahre ins nördlich (ab)gelegene Shanxi flüchtete (1934-35). Unter ständigen militärischen Abwehraktionen kamen nach 10 000 km Marsch noch 8000 Überlebende an, darunter Mao Zedong. Die Kommunisten schienen verloren.
1937-45 wurde in einer zweiten Einheitsfront gegen die Japaner gekämpft, die, neben der Mandschurei praktisch das gesamte Küstengebiet in 300 km Tiefe eroberten. Hinter den Reihen sinisierte Mao (1941) den Moskauer Kommunismus in theoretischen Schriften, wobei als treibende Kraft die Bauern statt des Arbeiterproletariats erkannt wurden. Die ideologische Gleichschaltung der autoritär organisierten Partei wurde begonnen (1942-44), sowie die Mobilisierung der Bauern durch lokale Landreformen.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges (1945) gewannen die Kommunisten durch die Unterstützung der Bauern "vom Land aus in die Städte" den Bürgerkrieg, 1949 floh die Guomindang nach Taiwan und Mao gründete die Volksrepublik China. Er wurde als nationaler Befreier gefeiert.
Nach sowietischem Vorbild organisierte er die Partei von oben nach unten (Zentrale / Provinz / Landkreis [Stadt] / Gemeinde [Stadtbezirk]); die Regierung und das Militär waren parallel organisiert und wurden von der Partei gesteuert. Auch dieses System, das bis heute praktisch unverändert gültig ist, war eine Regierung für das Volk, nicht durch das Volk, und hatte große Gemeinsamkeiten mit dem autokratischen Ming- oder Mandschu-System. Die Partei ersetzte den kaiserlichen Herrschaftsapparat. Allerdings gab es statt einem kaiserlichen Beamten auf ca. 10 000 Einwohner (1) nun (Stand 2000) etwa 8 Mio. Posten der Nomenklatura, also etwa einen Parteifunktionär auf 100 Einwohner: Die Kontrolle war hundertfach verstärkt.
Mao war eine machtvolle Persönlichkeit. Er gestaltete aktiv und verteidigte sich gegen Angriffe der Partei stets erfolgreich.
Seine Regierungszeit als Diktator, bis wenige Jahre vor seinem Tod, liest sich wie eine Abfolge von Experimenten, China und die Chinesen neu zu gestalten. Diese Experimente kosteten Millionen Menschen das Leben.
1950 begann er die Landreform, reiche Bauern wurden enteignet, das Land an arme verteilt. Dies lief über Kampfversammlungen in den Dörfern, ca. eine Million Gutsbesitzer wurden getötet. Der "kleine Landadel" der Ming- und Qing-Zeit wurde durch Parteikader ersetzt. Parallel wurden in den Städten die parteikontrollierten Arbeitseinheiten (danwei) gegründet, die für Arbeitserlaubnis, Wohnung, Beförderung, Heiratserlaubnis u.ä. zuständig waren. Großindustrie und Banken wurden verstaatlicht. Die ersten Revolutionsziele, nämlich außenpolitische Unabhängigkeit, Landreform und totalitäre Kontrolle, waren erreicht.
Ebenfalls 1950 fielen chinesische Truppen in Tibet ein. Ein Volksaufstand 1959 mit wiederholter Erklärung der Unabhängigkeit Tibets sollte niedergeschlagen werden und mit der Flucht des Dalai Lama nach Indien enden (6).
1950 begann auch der Koreakrieg der beiden nach 1945 getrennten Landeshälften. Letztlich - Kalter Krieg - kämpfte China gegen USA, und 1953 wurde ein Waffenstillstand auf Basis der der vorherigen Demarkationslinie geschlossen. Mao wies alle Ausländer aus und betrieb eine Kampagne gegen Konterrevolutionäre, der etwa eine Million Menschen zum Opfer fielen. Die Abschottung sollte bis zum Nixonbesuch 1972, nach seinem Tod, dauern.
1953 wurde der erste Fünfjahresplan nach sowietischem Muster begonnen, der ca. 80 % der Investitionen in die Schwerindustrie lenkte. Zehntausende Ingenieure und Fachkräfte wurden zwischen China und der Sowietunion ausgetauscht.
Da die Landwirtschaft zu langsam wuchs, um den Fünfjahresplan zu finanzieren, setzte Mao gegen bremsende Widerstände in der Partei - wiederum mit einer Kampagne direkt mit den Bauern - 1955 die Kollektivierung der Landwirtschaft (in Großfarmen mit durchschnittlich 200 Bauernhaushalten), und anschließend der verbliebenen privaten Betriebe, durch, die mit der Unterstützung der lokalen Kader innerhalb eines Jahres gelang. Das Privateigentum war abgeschafft, China war sozialistisch.
1957 startete Mao gegen parteiinterne Kritik an seinem Personenkult die Kampagne "Lasst 100 Blumen blühen", die die Intellektuellen zu offener Kritik an der Partei ermunterte. Als die Kritik an den Privilegien der neuen herrschenden Klasse umschlug in Zweifel an der Berechtigung der Kommunistischen Partei, folgte nach nur sechs Wochen die "Anti-Rechts-Kampagne", die die Abweichler verfolgte. Etwa eine halbe Million Intellektuelle starben.
Da auch die Kollektivierung der Landwirtschaft nicht die erhofften Steigerungsraten brachte, wurde 1960 die Idee, das Wirtschaftswachstum lokal auf dem Land zu schaffen, im "Großen Sprung" umgesetzt. 500 Mio. Bauern wurden in etwa 24 000 Kommunen (je 20 000 Menschen) organisiert, die in neuen Wirtschaftszentren Industrie, Handel und Ausbildung lokal aufbauen sollten. Nach einem Jahr gab es bereits eine Mio. Hochöfen (deren Stahl kaum verwendbar war), die (unerfahrenen) Frauen bestellten die Felder, an "Rot-und-Experte"-Schulen lernten die Bauern das Nötigste. Nach drei katastrophalen Mißernten, die der Führung äußerst zögerlich gemeldet wurden, waren 1960 30 bis 40 Mio. Hungertote zu beklagen.
Gleichzeitig (1960) zog die Sowietunion alle ihre Berater ab, da sie den eigenen Weg Chinas nicht akzeptieren wollten.
Durch den Mißerfolg beschädigt, zog sich Mao - vorübergehend - aus der Tagespolitik zurück. Pragmatiker wie Deng Xiaoping drehten unter dem Motto "Ordnung und Wachstum" das Rad zurück; die Struktur der Partei wurde wieder gefestigt (es gab 30 Hierarchiestufen, mit Dienstwagen-, Wohnungs- und Luxusurlaubsregelung), die Produktionsgruppen auf 20-30 Haushalte verkleinert, Leistungslohn wieder eingeführt (unter dem Zweiklassensystem der Ansässigen und der Wanderarbeiter), private Kleinparzellen ebenso wie lokale private Märkte erlaubt. Die privaten Parzellen umfassten ca. 12 % der Fläche und erzielten ca. 30 % der Einkommen. Die Wachstumsraten betrugen 1961-1965 deutlich über 10 % für Landwirtschaft und Industrie. Aus dieser Zeit stammt Deng Xiaoping's Ausspruch: "Es kommt nicht darauf an, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt, ist sie eine gute Katze,", mit der er die Reprivatisierung der Landwirtschaft kommentierte.
Elemente des Kapitalismus, Privateigentum und Eigeninitiative wurden eingeführt und zeigten ihre Stärke, gleichzeitig wurde die Parteidiktatur organisatorisch gefestigt.
Nach propagandistischen Vorarbeiten kehrte Mao auf die politische Bühne zurück und organisierte mit Hilfe von Studenten und Schülern 1966 die "Kulturrevolution", den revolutionären Aufstand gegen die Parteibourgeoisie, die "neue Ausbeuterklasse". Exzesse der "Roten Garden" gegen Lehrer, Professoren und wohlhabende Bürger mündeten in Straßenschlachten zwischen privilegierten und nicht privilegierten Arbeitern. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände wurden von der Armee beendet, eine halbe Million Menschen verlor das Leben, mehrere Millionen Schüler wurden zur Umerziehung aufs Land geschickt.
Wie bei der Kampagne der "100 Blumen" die Intellektuellen, hatte Mao hier die Jugend aufgerufen, "seine" Revolution zu retten, um sie umgehend, bei Ausbleiben des Erfolges, zu verraten.
1968 setzte die Sowietunion die Breschnew-Doktrin in Kraft, die das militärische Eingreifen zur Wahrung des Sozialismus in fremden Staaten sanktionierte. Nach bewaffneten Grenzstreitigkeiten mit der Sowietunion schwenkte China auf die Öffnung zur internationalen Gemeinschaft und zu den USA hin um: 1971 Beitritt zu den Vereinten Nationen, 1972 Nixonbesuch in China.
1976 starb Mao, seine prominentesten Verbündeten, die "Viererbande", wurden zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die heutige (westliche) Interpretation der Jahre 1949-1976 sieht Mao nicht als Marxisten, sondern als Bauernrevolutionär. Er einte erfolgreich das Land, war ein totalitärer und grausamer Diktator, verachtete Kaufleute, Profit, Außenbeziehungen (darin glich er den dynastischen Kaisern) sowie Intellektuelle und ihr Wissen. Er hinterließ ein China, das, trotz des industriellen Wachstums, relativ zu anderen asiatischen Staaten schlechter dastand als vorher, ein Viertel der auf knapp eine Mio. gestiegenen Bevölkerung lebte unter der Armutsgrenze. Man spricht von den "verlorenen 20 Jahren".
1978 übernahm Deng Xiaoping die Macht. Er betrieb und unterstützte graduelle Reformen in tastenden Schritten, die marktwirtschaftliche Elemente, Dezentralisierung und eine Öffnung nach außen förderten. Er vertrat die Ansicht, dass man Menschen durch materielle Leistungsanreize motivieren muss, wenn man die Wirtschaft ankurbeln will.
Zitate: "Praxis ist das alleinige Kriterium der Wahrheit"; "Reichwerden ist glorreich"; "Lasst einige reichwerden, damit sie anderen helfen".
Innerhalb von fünf Jahren wurde die Landwirtschaft reprivatisiert (Abb. links unten), die Gewinne ländlicher Betriebe bei diesen belassen ("Kaderkapitalismus"), kleine Privatunternehmen erlaubt (mangelnde Rechtslage musste durch Beziehung wettgemacht werden), die größeren Unternehmen wurden von der Führung durch die Partei freigestellt, deren Planabgabemengen zu Fixpreisen heruntergefahren, Auslandinvestitionen graduell erlaubt.
1992 verkündete der Parteikongress die "sozialistische Marktwirtschaft" als Ziel.
Der Außenhandel stieg von 3 Mrd. Dollar zu Maos Zeiten auf 300 Mrd. Dollar, ein Zeichen für Chinas Wirtschaftswunder in den 80er und 90er Jahren (Abb. rechts unten).
Rückkehr zur privaten Bauernwirtschaft |
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Quelle: Konrad Seitz, "China - eine Weltmacht kehrt zurück", 2006 | Quelle: Konrad Seitz, "China - eine Weltmacht kehrt zurück", 2006 |
Gleichzeitig (1979) wurde die Einkindpolitik eingeführt, um aus dem Teufelskreis - höhere Ernten - höhere Geburtenrate - mehr Armut - herauszukommen. Eine Entscheidung, die aus verschiedenen Standpunkten heraus eindeutig sinnvoll erscheint, in demokratischen Staaten jedoch in dieser Form sicherlich nicht durchsetzbar wäre.
Quelle: Konrad Seitz, "China - eine Weltmacht kehrt zurück", 2006 |
Eine nach Maos Tod erstarkende Demokratiebewegung vurde von Deng mit der "Diktatur des Volkes", dem Alleinherrschaftsanspruch der Partei, gekontert. Wandzeitungen und das Streikrecht wurden verboten, es liefen mehrere Verhaftungswellen und Kampagnen, so die "gegen geistige Verschmutzung" 1983 (4). Als ab 1986 durch zunehmende Korruption(Abb. rechts, mittlere Graphik: Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer) und erlahmende Reformen der Staatsunternehmen die Wirtschaft schrumpfte, bis zu einer Hyperinflation 1988, brach sich die Demokratiebewegung Bahn zu einer breiteren Öffentlichkeit, und die Aktionen kulminierten in der Besetzung des Tiananmenplatzes zum 4. Mai 1989, dem 70sten Jahrestag der symbolischen Revolutionsgeburtsstunde. Zu den Studenten gesellten sich Arbeiter, Angestellte, Parteiangehörige, bis zu einer Mio. Menschen waren auf der Straße. Am 20.5. wurde das Kriegsrecht verhängt, am 3/4.6. der Platz vom Militär geräumt. Die Pekinger Bevölkerung hatte die Zufahrtswege blockiert und versuchte die Panzer aufzuhalten, es gab Hunderte von Toten.
Wie verlief die Aufarbeitung dieses Ereignisses? Zeitgleich (1989) war der Ostblock zerfallen, sodass die Angst vor einer Parallele für weite Parteikreise das Zurückdrehen der Reformen nahelegte. Eine Säuberungswelle verpuffte (knapp eine Mio. von 40 Mio. Parteimitgliedern hatten die Demokratiebewegung insgeheim unterstützt), es folgte eine Kampagne gegen Korruption.
Deng veranstaltete dagegen zum Erhalt seiner Vision 1992 die "Südreise" in mehrere Regionen und Städte (in alter Tradition bringt die Reise des Kaisers dem Volk den Segen des Himmels) und verkündete seine Botschaften: Beschleunigung der wirtschaftlichen Reformen und der Öffnung, Bekenntnis zur Übernahme kapitalistischer Methoden, eine strenge Verwaltung gegen die Korruption, die Notwendigkeit der Erziehung der Jugend, um die Alleinherrschaft der Partei für die Zukunft zu sichern, und ein Nein zur Demokratie.
1997 starb Deng Xiaoping; die westliche Interpretation schreibt seiner Regierungszeit zu, mit dem Primat der Wirtschaft "frühkapitalistische Zustände" eingeführt, sowie die Diktatur als Mittel für politische Stabilität gewählt zu haben.
In den 90er Jahren entdeckte die Führung die alte chinesische Vergangenheit und den Konfuzianismus wieder.
1992 fanden in Taiwan die ersten demokratischen Wahlen statt, die USA drohten militärisch gegen Wiedervereinigungsforderungen von Seiten Chinas. 2000 hatte Taiwan ein Pro-Kopf-Einkommen von 14 000 US-Dollar(Abb. unten), und hatte sich in einigen Hardware-Branchen einen Welt-Spitzenplatz erarbeitet, z. B. wurden 58 % aller Monitore und 64 % aller PC-Hauptplatinen dort erzeugt.
1997 wurde Hongkong von Großbritannien an China zurückgegeben; heute ist es das drittgrößte Bankenzentrum der Welt.
Quelle: Konrad Seitz, "China - eine Weltmacht kehrt zurück", 2006 |
Die Frage (3) der Einführungsseite "China" - Warum zerfiel die kommunistische Sowietunion, während das kommunistische China zum Geldgeber des Kapitalismus aufstieg? - lässt sich anhand der dargestellten Geschichte plausibel nachvollziehen:
China war ab 1949, wie die Sowietunion, durchgängig eine Parteidiktatur, hatte jedoch, nach einer Landreform, stufenweise das Privateigentum im landwirtschaftlichen, industriellen und Handelsbereich wiedereingeführt und damit die wirtschaftliche Eigeninitiative als Schlüssel zum Wohlergehen des Staates identifiziert und gefördert. China ist, seit Deng Xiaoping, wohl das weltweit erste Beispiel einer "kapitalistischen Diktatur".
Ausblick - offene Fragen (Stand Jahr 2000)
- Überbevölkerung: Die Bevölkerung von 1,3 Mrd. Menschen wächst immer noch um 0,5 % pro Jahr. Diese sowie die aus der Landwirtschaft freigestellten Menschen suchen Arbeit. 200 Mio. Wanderarbeiter sind Menschen zweiter Klasse, die ein zusätzliches soziales Gefälle in den Städten und dadurch Unzufriedenheit schaffen.
- Umweltzerstörung: Städte versmogen, Flusswasser wird untrinkbar und versiegt, Böden erodieren, Schadstoffe werden emittiert. Phänomene, die auch Europa in der Entwicklung der Industrialisierung erlebte, werden in großem Maßstab wiederholt. Die globale Wirkung (China sollte 2010 der größte CO2-Emittent werden) ist noch nicht einmal berücksichtigt.
- Korruption: Prinzipielles Problem einer Diktatur, da die Leidtragenden (Bürger) die Nutznießer (Parteikader) in keiner Weise kontrollieren können. Die Korruption verstärkt die Ungleichverteilung der Einkommen und schafft damit Unzufriedenheit.
- Menschenrechte: Die Bedürfnisse des Menschen nach Unversehrtheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Vertrauen in ein Rechtswesen werden in einer Diktatur wenig berücksichtigt. Die Erlaubnis der wirtschaftlichen Eigeninitiative ersetzt dies nur teilweise.
- Ethisches Vakuum: Die reiche geistesgeschichtliche Tradition Chinas wurde durch Mao nahezu ausgelöscht. Das kapitalistische Streben nach persönlichem Reichtum ist dafür kein Ersatz.
- Vielvölkerstaat (Landkarte): Ethnische und kulturelle Minderheiten, wie die Uiguren in Xinjiang, die Tibeter und die Mongolen der inneren Mongolei, um nur die größten zu nennen, werden von China aufgrund des "Erobertenstatus" als Untertanen beansprucht (motiviert sicherlich auch durch Rohstoffe: Ca. ein Drittel der chinesischen Öl/Gas/Kohle-Vorkommen liegen in Xinjang). Dies berührt letzten Endes auch das Menschenrechtsthema.
Anhang:
Landkarte China Provinzen und autonome Gebiete (5)
Landkarte China Bevölkerung (1983) (5)
Landkarte China ethno-linguistisch (5)
Landkarte China Bodenschätze (5)
Quellenangaben:
Kapitel 9: zur chinesischen Geschichte, soweit nicht anders gekennzeichnet, sowie (1): Jacques Gernet, "Die chinesische Welt", 1988
zur japanischen Geschichte: Hisako Matsubara, "Weg zu Japan, West-östliche Erfahrungen", 1983, sowie (2)
Kapitel 10: zur chinesischen Geschichte, soweit nicht anders gekennzeichnet, sowie (3): Konrad Seitz, "China - Eine Weltmacht kehrt zurück", 2006
(4) Wikipedia
(5) Info2China.com
(6) Helwig Schmidt-Glintzer, "Das Neue China - von den Opiumkriegen bis heute", 2006