__________________________________ Das Buch: "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

______________________________________________ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

Demokratie: Eine "Bierdeckel-Betrachtung" von Geschichte und Gegenwart

 

Demokratie auf der Roten Liste der bedrohten Arten?

November 2016

 
Quelle: (1)


Die "Rote Liste" beschreibt den globalen Erhaltungszustand biologischer Arten, von "unkritisch" über verschiedene Bedrohungsstufen bis hin zu "ausgestorben".
Wenn man dieses Konzept auf die Staatsformen dieser Erde anwendet, wo steht dann die Demokratie?

1. Anstelle einer Definition
Demokratie - griechisch: Herrschaft des Volkes - ist ein weiter Begriff. Üblicherweise beinhaltet sie Elemente von:

  • Freie und geheime Wahlen durch einen größeren Teil der Bevölkerung
  • Gewaltenteilung der Staatsmacht in Gesetzgebung / Regierung / Rechtsprechung (Legislative / Exekutive / Jurisdiktion)
  • Parteien
  • Freie Medien
  • Bekenntnis zu einem Satz an Menschenrechten

2. Geschichte
Seit dem Beginn der Sesshaftwerdung des Menschen vor etwa 8000 Jahren gab und gibt es demokratieartige Staatsformen nur selten und an nur wenigen Orten.

Häufig wird als erstes Vorläuferbeispiel das antike Athen genannt, zeitlich etwa zwischen den Reformen des Solon 594 bis 322 v.u.Z. nach dem Tod Alexander des Großen.
Der Stadtstaat hatte etwa 200 000 Einwohner, wovon 30 000 politisch aktiv waren. Ausgeschlossen waren die Sklaven, die Zugewanderten, die Frauen. Der "Rat der 500" tagte beinahe täglich, die Volksversammlung fast wöchentlich. Ämter wurden per Los vergeben. Parteien und Gewaltenteilung im heutigen Sinn gab es nicht.
Es wird ein Zusammenhang zwischen der militärischen Situation und der Staatsform gesehen: Die im Krieg mit den Nachbarn und Persern wesentlichen - und erfolgreichen - Großruderschiffe (Trieren) wurden nicht mit Sklaven, sondern mit Bürgern bemannt, deren Motivation erforderlich war. (2)  

Erst deutlich später, in der europäischen Neuzeit, folgten weitere Entwicklungen in Richtung Demokratie, meist in Folge von kriegerischen Ereignissen.
Die englische "Bill of Rights", die  1689 die Rechte des Parlaments gegenüber dem König festschrieb, war das Resultat eines Bürgerkrieges und der "Glorious Revolution".
Die Verfassung der USA 1787 zur Bildung eines Bundesstaates resultierte aus der militärisch gegen England durchgesetzten Unabhängigkeit. "All men are created equal" (alle Menschen sind gleich geschaffen) steht im ersten Satz der Präambel der Unabhängigkeitserklärung von 1776.  
In Frankreich war das Ergebnis der Revolution gegen Feudalismus und das Königtum (Sturm auf die Bastille 1789, "Liberté, Egalité, Fraternité" [Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit]) eine Republik, nach einem blutigen Bürgerkrieg und zwischenzeitlich mit Napoleon als Kaiser.
Diese Revolutionen stellen aus heutiger Sicht Stufen weg vom dynastischen Königtum hin zu Republiken mit demokratischen Elementen dar. So enthielt zwar die US-amerikanische Verfassung 1791 die Zusätze der "Bill of Rights", eine Sammlung von Menschenrechten. Nicht gültig waren diese jedoch für die eingeborenen Indianer, für die importierten afrikanischen Sklaven und auch nicht für die Frauen.
Die Schweiz führte das Frauenwahlrecht auf Bundesebene erst 1971 ein. (2) 

Im 19. Jh. erweiterte die sozialistische Bewegung das Parteienspektrum. Diese war eine Reaktion auf die Ausbeutung der neu entstehenden Arbeiterklasse in den von der industriellen Revolution profitierenden Ländern.
Es bleibt festzuhalten, dass die demokratienahen Länder Europas und Nordamerikas wirtschaftlich andere Regionen ausbeuteten - über Kolonialismus/Imperialismus (Europa) oder durch Landnahme/Sklavenhaltung (USA). 

Im 20. Jh. verhinderte das demokratische Niveau derselben meist industrialisierten Länder vor dem Hintergrund eines aggressiven Nationalismus nicht den 1. Weltkrieg. Danach starb die Demokratie in Festlandeuropa beinahe aus: Oktoberrevolution in Russland 1917, Machtübernahme durch Hitler 1933.

1989-1991, die Jahre des friedlichen Zerfalls der Sowjetunion, der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges, wurden interpretiert als Systemsieg der kapitalistischen Demokratie gegen die kommunistische Planwirtschaft. Die Demokratie hatte sich evolutionär durchgesetzt!



3. Wo stehen wir heute (2016)?
Nur 25 Jahre später sieht die Realität ganz anders aus:

     
                       Länder nach Freiheitsgrad 2016
    grün: frei; gelb: teilweise frei; blau: unfrei
    Erläuterungen s. (4)
    Quelle: Freedom House 2016 (3)
       
  • China als kapitalistische Diktatur hat sich erfolgreich zu einem der mächtigsten weltpolitischen Akteure entwickelt (5)
  • Der Islam und islamische Staaten haben an Bedeutung gewonnen. Der religiös geführte Iran geriet in den Verdacht der Atombombenherstellung; die Arabellion 2010/2011 wurde als Demokratiebewegung gefeiert, die sich jedoch nicht durchsetzte; islamistische Terrororganisationen entwickelten sich bis hin zu einer staatsähnlichen Struktur (Islamischer Staat in Irak und Syrien). Nach einem Putschversuch Juli 2016 entdemokratisierte sich das türkische Staatswesen mit hoher Geschwindigkeit.
  • Die unter der Flagge der Demokratie betriebene Europäische Union geriet anlässlich der Weltfinanzkrise 2007 mit ihrem in eine erste Krise, die zweite folgte mit der Migrationswelle um 2015.
    In der EU-Wahl 2014 wählten 21 % der Wähler euroskeptisch, in vielen Ländern erhielten populistische und teilweise antidemokratische Parteien bis 2016 20 % oder mehr der Stimmen. Großbritannien stimmte Juni 2016 für den EU-Austritt.
  • Die USA wurden durch Fracking zum Selbstversorger für fossile Energie und ihr wirtschaftlich strategisches Interesse an den Ölstaaten nahm infolgedessen ab. Die Ungleichverteilung der Einkommen und die soziale Ungerechtigkeit haben so zugenommen, dass Oktober 2016 ein populistischer Präsident gewählt wurde, als Protest gegen das politische Establishment beider Parteien.

 

4. Zusammenhänge
Was hat sich in den 25 Jahren seit dem "friedlichen Sieg der Demokratie" nach dem Kalten Krieg der beiden damals wichtigsten Machtblöcke geändert?

Sowohl Probleme als auch Machtstrukturen haben sich (weiter) globalisiert bzw. transnationalisiert:

  1. Realwirtschaft gewinnt undemokratische Macht
    Die Globalisierung und Verbilligung des Güterverkehrs verstärkt neokoloniale Ausbeutungsstrukturen. 
    Transnationale Firmen gewinnen Macht an den Einzelstaaten vorbei, z. B. zur Steuergestaltung.
    Beides sind undemokratische Prozesse und fördern gleichzeitig die Ungleichverteilung der Einkommen.
  2. Finanzwirtschaft gewinnt undemokratische Macht
    Der Umsatz der Finanzwirtschaft ist seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts durch Liberalisierung und Informationstechnik rasant auf ein Vielfaches des Realwirtschaft-Umsatzes gestiegen. Er ist im Gegensatz zu Letzterem unversteuert und wird zu wesentlichen Teilen intransparent und von Staaten unkontrolliert abgewickelt. Die globale Finanzkrise 2008 hat gezeigt, dass die Mächtigkeit des Finanzsystems "systemrelevante" staatliche Rettungsaktionen auslöste: Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert - auch dies ist ein zutiefst undemokratischer Prozess. 
  3. Finanzwirtschaft als falscher Anreiz für die Demokratie
    a) Das europäische Experiment der Gemeinschaftswährung hat zu einer Geldschwemme geführt (nb: Verordnet durch die nicht demokratisch gesteuerte Europäische Zentralbank). Die niedrigen Zinsen verführen demokratische Parteien zu Wahlversprechen auf Pump, damit wird nachhaltig das demokratische System geschädigt, da das Solidaritätsprinzip (auf die eigene Zukunft) unterlaufen wird.
    b) Staaten unterbieten sich in Steuersätzen für Unternehmen, dies führt zu "Steueroasen" sowie letztlich zum finanziellen Machtverlust der Staaten gegenüber den Unternehmen, s. auch (1).
  4. Soziale Medien als Manipulator des bürgerlichen Interesses
    Das Internet ist ein relativ neues und mächtiges Werkzeug, das der Kontrolle der demokratischen Staaten weitgehend entzogen ist. Kritisch in diesem Zusammenhang ist die Fähigkeit der sozialen Medien, Nutzer in gedanklichen "Blasen" von der Realität bzw. von der Meinung Andersdenkender abzuschotten. Dies wird kommerziell betrieben, aber auch politisch, durch Staaten / Geheimdienste / Parteien / andere Lobbygruppen. Es droht eine - demokratiefeindliche - "postfaktische" Mentalität, in der Wissen wenig, die Meinung der eigenen Gruppe jedoch viel zählt. Ein schwacher Bildungsstandard verstärkt diesen Effekt.
  5. Kontrollverlust bei globalen Problemen
    Die Staatengemeinschaft, verstanden als die Summe aller Einzelstaaten, die organisiert sein kann (Vereinte Nationen, OECD usw.) oder auch nicht, hat Schwierigkeiten, die in jüngerer Vergangenheit aufgetretenen bzw. erkannten globalen Probleme zu lösen, wie Klimawandel, Verbrauch natürlicher Ressourcen, Bevölkerungszuwachs, Artensterben. Die Solidaritätsfrage (mit Anderen, mit den Menschen nach uns) wird auch von und zwischen demokratischen Staaten wenig erfolgreich adressiert.
  6. Europäische Union - Mangelnde Selbstorganisationsfähigkeit eines demokratischen Staatenverbundes
    Die EU schaffte es bereits 2005 nicht, sich eine neue Verfassung zu geben. Transnationale Probleme wie Finanzkrise 2008, Eurokrise seitdem, Migrantenkrise 2015, Kontrolle der unter (1)-(4) genannten Phänomene werden nicht zeitnah oder nicht wirksam abgearbeitet.
  7. Reaktionszeit demokratischer Staaten
    Technische, gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Veränderungen erfordern eine Systemantwort. Demokratische Staaten haben möglicherweise eine längere Reaktionszeit als oligarchische oder diktatorische. Wenn die externen Veränderungen schneller erfolgen als die Antworten, wird die Demokratie geschwächt.
     

Demokratische Staaten, einzeln oder in Wechselwirkung miteinander, lösen - auch innerhalb ihrer Einflusssphäre - zwei gesellschaftlich zentrale Problemkomplexe nicht. Dies sind einerseits die soziale Ungerechtigkeit (z. B. Ungleichverteilung der Einkommen), sowohl innerstaatlich als auch transnational, und andererseits die zeitliche Ungerechtigkeit, den unkontrollierten Ressourcenverbrauch zu Lasten künftiger Generationen.
Sodann sind sie in ihrer Substanz bedroht, wenn sie ihre innere Ordnung nicht mehr erhalten können, weil wirksame Kontrolle und Sanktionierung von Regelverstößen fehlen.

Eine Größenordnung von durchschnittlich 20 % Wählerstimmen für populistische Parteien in Europa, sowie die Protestwahl 2016 in USA haben gezeigt, dass die Bürger sich in ihren zentralen Sorgen - z. B. Kontrollverlust in Europa, soziale Ungerechtigkeit in USA - von den demokratischen politischen Eliten zunehmend weniger vertreten fühlen.

Ein Umdenken tut not.
Neben der - ex 1989 sicherlich überraschenden - Tatsache, dass mit China eine neue "Spezies" aufgetreten ist, die ein unfreies politisches System mit erfolgreichem Kapitalismus verbindet, ist es die zunehmende Macht transnationaler Akteure - darunter solche aus dem kapitalistischen System selbst - die mit Auftreten und Geschwindigkeit die Stabilität nationaler Demokratien bedroht.
Deren Einwohner und deren Institutionen (Parteien, Regierung, Rechtswesen, Presse) sind wohl gut beraten, ihre Bürger- und politischen Rechte mit Weitsicht zu verteidigen, sofern ihnen daran gelegen ist.
Sonst wird sich der Erhaltungszustand der "Spezies Demokratie" weiter verschlechtern.     



Quellenangaben und Anmerkungen
(1) Fotomontage des Autors auf Basis der Startseite der IUCN-Red List (Rote Liste der bedrohten Arten der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources) (2016) 
(2) P. Nolte, "Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart" (München: Verlag C. H. Beck, 2012)
(3) Freedom House (US-amerikanische Nichtregierungsorganisation), dort: Reports / Freedom in the World (2016)
(4) Die Bewertung erfolgt nach 25 Indikatoren für politische Rechte und Bürgerrechte.
2016 wurden 44 % der Staaten als "frei", 30 % als "teilweise frei" und 26 % als "unfrei" bewertet.
Nach einem Anstieg zwischen 1985 und 2005 war ein Rückgang erfolgt: Zwischen 2005 und 2015 verschlechterten sich jährlich zwischen ca. 10 und 25 Länder mehr in ihrer Bewertung als sich verbesserten.
(5) Geschichte Chinas im Vergleich mit Europa