__________________________________ Das Buch: "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

______________________________________________ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

Somatische Marker - eine Theorie des Neurowissenschaftlers Damasio (1994) (1)

 

Denken wir mit dem Bauch? Die Hypothese der somatischen Marker

 

Das Glücksspiel-Experiment
Vier verdeckte Kartenstapel, von denen jeweils zwei Stapel hohe bzw. niedrige Gewinne (z. B. je 100 € und je 50 €) ausweisen. Ziel des Spieles ist es möglichst viel Geld zu verdienen, durch Aufdecken der "optimalen" Karten. Die Spieldauer ist dem Einzelspieler vorher nicht bekannt und liegt z. B. bei 100 Zügen. Der Haken an der Sache: Unter die Stapel sind unregelmäßig Strafkarten verteilt (z. B. minus 1000 € oder minus 100 €), wobei die Mischung so gestaltet ist, dass die "hohen" Stapel (100 €) im Schnitt einen Verlust erbringen, die "niedrigen" Stapel (50 €) einen Gewinn.
Spieler merken üblicherweise nach ca. 30-40 Karten, welche Stapel gewinnbringend sind und ziehen nur noch diese Karten.

 
  ventromedialer Sektor des präfrontalen Cortex (VM-PFC)
a) rechte Hemisphäre von außen (lateral)
b) rechte Hemisphäre von innen (medial)
c) Gehirn von unten (ventral)
d) linke Hemisphäre von außen (lateral)
e) linke Hemisphäre von innen (medial)
Der VM-PFC liegt also im Stirnbereich
Glücksspiel: Abhebe-Verteilung bei 100 Spielzügen, C und D sind die "guten" Stapel
oben: Gesunde
unten: VM-PFC-Patienten
   Quelle beide Abb.: Damasio,
   "Descartes' Error", 1994
     

Beobachtungen aus dem Glücksspiel:
a) Wird bei den Probanden während des Spielverlaufes die elektrische Leitfähigkeit der Haut gemessen (Anregung der Schweißdrüsen gilt als ein Zeichen für emotionale Erregung; dies wird beim "Lügendetektor" ausgenutzt), so wird nach dem Ziehen von Strafkarten ein Peak gemessen. Das Spannende ist, dass bereits nach z. B. ca.  20 Zügen, also bevor der Proband bewusst auf die "guten" Stapel zugreift, vor dem Aufdecken von Karten aus den "schlechten" Stapeln sich ebenfalls ein Peak bildet, dessen Intensität laufend steigt.
b) Probanden mit Schäden in einem gewissen Hirnbereich, dem ventromedialen Sektor des präfrontalen Cortex (VM-PFC), entwickeln überhaupt keine Leitfähigkeitspeaks, und wählen  - in aktiver Entscheidung - die falschen Stapel, obwohl sie nach dem Spiel in der Lage sind, zu erklären, welches die "besseren" Stapel waren.
("Iowa Gambling Task", Bechara et. al. 1994)

Neurologische Beobachtungen
Bei Patienten mit VM-PFC-Schäden (s.o.), die sich möglicherweise völlig normal verhalten bezüglich Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprachverhalten, Intelligenztests, zeigen sich gleichzeitig sowohl ein Mangel an Emotionen (sie haben vor nichts Angst, regen sich über nichts auf, freuen sich nicht) als auch eine Unfähigkeit im sozialen Verhalten: Sie können ihr eigenes Leben nicht mehr organisieren (verlieren dadurch meist ihren Job und häufig auch den "normalen" Umgang mit Familie, Freunden, Fremden).  

Die beiden Beispiele zeigen, dass "Emotionen" und "Entscheidungen" irgendwie zusammenhängen.

Damasio formulierte 1994 die Hypothese der somatischen Marker (von "σῶμα" [griechisch] "Körper"):

Bewusste Entscheidungen, zumindest im persönlichen / sozialen Bereich, werden stets und automatisch durch Erzeugung von Körperzuständen und deren Rückmeldung, teils unbewusst und teils bewusst, gewichtend beeinflusst.   



Zum Einstieg in die Anatomie des Gehirns folgen zwei Abbildungen, die Bereiche der Großhirnrinde und das sogenannte limbische System zeigen.

Darstellung der Großhirnrinde mit funktionellen Bereichen
Quelle: NetDoktor.de, abgerufen aus Wikipedia 18.11.12
Darstellung des limbischen Systems
Quelle: K. C. Mayer 2012, abgerufen aus Wikipedia 18.11.12


Die linke Abbildung zeigt funktionelle Bereiche des Neocortex (des evolutionsgeschichtlich jüngsten Teils der Großhirnrinde, der sich erst mit den Säugetieren vor ca. 250 Mio. Jahren zu entwickeln begann; die Faltung und der Strukturaufbau erfolgte vor ca. 100 Mio. Jahren; im Rahmen der Hominidenentwicklung ab ca. 10 Mio. Jahren nahm sein Volumen deutlich zu).
Auf zwei Regionen, die für die weitere Darstellung benötigt werden, sei besonders hingewiesen. 
Der linke graue Teil ist der bereits erwähnte präfrontale Cortex (PFC), dem wesentliche Funktionen des bewussten Denkens zugeordnet werden. Er ist bei der Gattung Homo in den letzten 2 Mio. Jahren nochmals deutlich gewachsen (bei Primaten nimmt er 17% des Großhirns ein, bei Homo sapiens 30%).
Dahinter (in der Graphik blaugrün) liegt der somatosensorische Bereich, der für Meldungen des Körperzustandes (Wärme/Kälte, taktile Reize der Haut, Position der Gelenke, Spannung der Muskeln) zuständig ist.

In der rechten Abbildung ist das sogenannte limbische System abgebildet. Es besteht aus mehreren einzelnen Organen und ist teilweise Bestandteil des Zwischenhirns (räumlich etwa im Mittelpunkt der Hirnschale), teilweise des Großhirns. Es begann sich ebenfalls vor ca. 250 Mio. Jahren zu entwickeln, vermutlich mit der Zunahme des Brutpflege- und Sozialverhaltens vor allem bei den Säugetieren. Ihm wird eine wesentliche Funktion bei der Erzeugung und Steuerung von Trieben und Emotionen zugeschrieben.

Ältere Teile des Gehirns sind der Hirnstamm (nicht abgebildet, in der Verlängerung des Rückenmarks) und das Kleinhirn (in der linken Abbildung rechts unten, dunkelgrau), die seit etwa 500 Mio. Jahren nachweisbar sind (Fische, Reptilien).


Damasios Beschreibung der Hypothese der somatischen Marker
                                    (Quelle: Die Zusammenfassung folgt im wesentlichen seinem Buch "Descartes' Error", A. Damasio, 1994)

 
   

Die Abbildung rechts zeigt Damasios Modell in graphischer Form. Sie ist insofern vereinfacht, dass funktionelle Teile fehlen können; die dargestellten Gehirnareale sind also nicht ausschließlich tätig, sondern  sind beispielhaft genannt.

Damasio benutzt u. a. den evolutionsbiologischen Ansatz, dass sich Entwicklungen meist in kleinen Schritten aufeinander aufbauen, und definiert daher als ältesten Baustein eine "primäre Emotion". Diese beinhaltet die Rückmeldung direkter Körperzustände (heiß/kalt, Puls, angespannte Muskeln, Durchblutungszustände der Eingeweide u.ä.; in der Abb. s. 1a) sowie "überlebensrelevante" Sinneseindrücke (z.B. ein Angreifer, ein bedrohliches Geräusch; in der Abb. s. 1b) über den somatosensorischen Cortex bzw. die Sinnescortices an die Amygdala (fette schwarze Pfeile). Man beachte, das Bewusstsein ist noch nicht involviert. Die Amygdala verarbeitet diese Eindrücke zur "Emotion", was bedeutet, dass sie entsprechende Signale sendet an die Organe (z.B. Puls erhöhen), an den Bewegungsapparat (z.B. Muskeln anspannen), an die Hormondrüsen (z. B. Adrenalin ausschütten [via Nebenniere]) und an die sogenannten Neurotransmitternuclei (z. B. Serotonin ausschütten [Serotonin wirkt u.a. aggressionshemmend]) (fette blaue Pfeile). Der Körper meldet seinen Zustand in einer Rückkopplungsschleife wieder zurück (wiederum fette schwarze Pfeile).
Die primären Emotionen, teilweise als Instinkte bezeichnet, sind genetisch bereits bei der Geburt "vorinstalliert".  
(Randbemerkung: Evolutionsgeschichtlich noch ältere "Reflexe", die direkt im Zentralnervensystem und im Hirnstamm bearbeitet werden, sind hier nicht erwähnt).

Die "sekundäre Emotion" beruht auf Sinneseindrücken, die ein (persönliches/soziales) Lernen voraussetzen, z. B. dem Foto einer Gewaltszene oder der akustischen Nachricht einer Katastrophe. Hierfür ist  - gelernte - Voraussetzung, dass ein Foto mit der Wirklichkeit assoziiert wird, dass Sprache beherrscht wird und dass Inhalte mit moralischen, ethischen oder sozialen Normen bewertet werden. Diese Verarbeitung geschieht im ventromedialen präfrontalen Cortex (VM-PFC), in der Abb. s. 2a. Der VM-PFC meldet das Ergebnis an die Amygdala (in der Abb. s. 2b), die wie bei der primären Emotion einen entsprechenden Körperzustand auslöst, der wiederum rückgemeldet wird (alle schwarzen Pfeile).
Auch hierbei ist noch kein Bewußtsein eingebunden.

Erst das "Gefühl" ist die Meldung dieser Bewertungen und Körperzustände an den dorsolateralen präfrontalen Cortex (Zentrum und stellvertretend für Prozesse wie Analyse, Problemlösung, bewusste Entscheidung, Planung, Priorisierung; Abb. s. 3), und damit an das bewusste Denken. Die mit dem Bewusstsein assoziierten Gehirnareale erhalten also innerhalb einer kurzen Zeitspanne die Auslösersignale (z. B. Katastrophennachricht), die Signale des zugehörigen "emotionalen" Körperzustandes, hormonelle und Neurotransmitter-Signale sowie die Bewertung des VM-PFC.

Damasio folgert nun, dass, insbesondere im "überlebensrelevanten" persönlichen und sozialen Bereich, der - in der Spitze bewusste - neuronale Ablauf des Erkennens von Situationen, des Bewertens, der Entwicklung von Szenarien, des Abwägens von Konsequenzen, der Handlungsplanung und -entscheidung selbstverständlich die Basissignale der Körperzustände ("Emotionen") als wichtiges, um nicht zu sagen erstes Entscheidungskriterium mit heranziehen würde. Des weiteren ordnet Damasio den Emotionen auch eine wesentliche Rolle bei der Priorisierung von Gedanken (welches Thema von mehreren möglichen soll ins Bewusstsein gehoben werden?) zu. Die Aufmerksamkeit sei also auch durch gefühlte Emotionen gesteuert.   


Mit dieser Hyothese lassen sich die eingangs genannten Befunde erklären:
a) Glücksspielexperiment
Beim VM-PFC-Patienten entfällt die sekundäre Emotion. Dies erklärt die negative Haut-Leitfähigkeitsreaktion. Das mangelnde Emotions-"Gefühl" verhindert eine Entscheidungsänderung durch Lernen. Er greift unbeirrt zu den höher dotierten Karten, und das, obwohl er, direkt nach dem Spielexperiment befragt, "rational" den Spielzweck und die beste Taktik erklären kann!
Auf der anderen Seite zeigt die frühe Haut-Leitfähigkeitsreaktion der gesunden Probanden, dass eine Entscheidung, emotionsgesteuert, vor Bewusstwerdung stattfinden kann. Der Begriff der Intuition kann so erklärt werden: Die Beurteilung einer Situation ohne / vor bewusstem "logischen" Nachdenken.
b) Neurologische Beobachtungen
Soziale / persönliche Situationsbewertung und Entscheidungsfindung, und damit ein gesellschaftlich normales Verhalten, setzt eine vorangehende Priorisierung  durch Erzeugung und Rückmeldung emotionaler Körperzustände voraus. Das intakte Vorhandensein anderer Funktionalitäten (Aufmerksamkeit, Sprache, Intelligenz, Gedächtnis) reicht hierfür nicht aus.

Konsequenzen
Die soziale Prägung, vor allem in Kindheit und Jugend, aber letztlich während des gesamten Lebens, konditioniert auf dem mächtigen Fundament der Emotionen (und des emotionalen Gedächtnisses) Verhaltensmuster, Vorlieben und Abneigungen des Handelns. Rein "rationale" Argumente können nicht eigenständig wirken.

Damasio empfiehlt, aus diesen Erkenntnissen zu lernen, mit dem folgenden Argument:
(Zitat (2)) "Bereits seit einiger Zeit sind die Menschen in einer neuen, "gedankenvollen" Phase der Evolution, in der ihr Gehirn und ihr Bewusstsein sowohl Diener als auch Herr ihrer Körper und der damit gebildeten Gesellschaften sein kann. Natürlich ist es riskant, wenn aus der Natur entstandene bewusste Gehirne entscheiden, Zauberlehrling zu spielen und die Natur selbst zu beeinflussen. Aber es ist ebenso riskant, die Herausforderung nicht anzunehmen und nicht zu versuchen, die Schäden zu minimieren. Genaugenommen ist es enorm riskant, überhaupt nichts zu tun. Genau das zu tun, was selbstverständlich scheint, kann nur denjenigen gefallen, die sich keine besseren Welten und keine besseren Wege vorstellen können, nur denjenigen, die glauben, bereits in der besten aller Welten zu sein."


Quellenangaben
(1) A. Damasio, "Descartes' Error - Emotion, Reason, and the Human Brain", 1994  
(2) Übersetzung G. Mair