_ "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

__ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

TTIP und andere Wirtschaftsabkommen: Eine Wertediskussion

 

Das europäische Selbstverständnis und TTIP

Über TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership, ein Freihandels- und Investitionsschutzabkommen zwischen den USA und der EU, in Verhandlung seit 2013) wurde inzwischen schon viel geschrieben - nachdem es sich von einer Geheimverhandlung in Brüssel zu einem emotional aufgeladenen öffentlichen Thema in vielen europäischen Ländern entwickelt hat.

Ohne auf der Sachebene auf die vielen kontrovers diskutierten Themenbereiche einzugehen, deren inhaltliche Beurteilung durch Mangel an Information nicht eben erleichtert wird, soll an dieser Stelle versucht werden, grundsätzliche institutionelle, gesellschaftliche, kulturelle und sonstige Werte-Strukturen zu beleuchten.

Was bedeutet TTIP (oder vergleichbare Abkommen der EU mit dritten Parteien) für das Selbstverständnis Europas?

1. Wertmaßstab Demokratie

Die Verhandlungsinhalte von TTIP werden die europäischen Gesellschaften wesentlich verändern. Geheimverhandlungen auf Ebene der Europäischen Kommission, bei der ggf. nur willkürlich ausgewählte Lobbygruppen zugelassen sind, widersprechen diametral dem Demokratieprinzip. Nationale Parlamente sind frühzeitig einzubeziehen und eine öffentliche Diskussion sollte von politischer Seite angestoßen werden (nicht nur von den Gegnern), und zwar über Inhalte, nicht über emotionale Bewertungen.
Die europäische Einigungseuphorie hin zum Brüsseler Zentralstaat, getragen von den Erfolgen der sechziger bis neunziger Jahre, ist ja spätestens seit der Finanzkrise, der Eurokrise und den durch andere Themen wie Zuwanderung ausgelösten politischen Zentrifugalkräften ja nun eindeutig abgeklungen - die Nationalstaaten sollten als gleichwertige demokratische Hauptakteure gelten.
In diesen Absatz fällt auch das Thema der "geheimen Schiedsgerichte": Die Sinnhaftigkeit (cui bono?) der Einrichtung einer neuen Jurisdiktion ist zu hinterfragen und bezüglich demokratischer Kontrollkriterien zu prüfen.

Der Germanist Roland Reuß hat diesen Wertmaßstab bündig auf den Punkt gebracht: "Geheim geht gar nicht" (FAZ vom 19.2.15)  

2. Wertmaßstab wirtschaftliches Wachstum

Wird wirtschaftliches Wachstum a priori als "gut" angesehen, so besteht der Vorteil eines internationalen Wirtschaftsabkommens in der Senkung von Transaktionskosten: Durch Senkung von Zöllen nehmen globale Handelsvolumina zu, durch Anpassung von Regeln und Normen entfallen doppelte Entwicklungs- und Prüfungskosten (das bedeutet jedoch z. B., dass die Automobilindustrie Mitarbeiter entlassen wird, die sie für die doppelte Entwicklung nicht mehr braucht: Das ist der Vorteil für die Exportindustrie). Die Märkte werden größer, lokale Nischen schwinden, die wirtschaftliche Globalisierung wird beschleunigt.
Im Sinne dieses Wertmaßstabes ist zu prüfen, wer gewinnt (Exportindustrie) und wer verliert (teurere lokale Anbieter). Die Frage, wo Arbeitsplätze geschaffen werden und wo sie verloren gehen, wäre ebenfalls zu betrachten.
Das Thema "Sperrklinkenklauseln" kann - unter dem Wertmaßstab Wirtschaftswachstum sowohl wie unter dem der Demokratie - getrost als Trojanisches Pferd gesehen werden. Veränderungssperren - jedweder Richtung - widersprechen dem Grundgedanken des Fortschritts, der beiden zugrunde liegt. Sie können m. E. nur als Vorteilsbewahrungsstrategie von Lobbygruppen interpretiert werden. Hätte man sich nach der Aufdeckung der Nebenwirkungen von Contergan 1961, das bei Einnahme während der frühen Schwangerschaft Missbildungen erzeugte, gewünscht, eine Sperrklinkenklausel hätte die künftige erweiterte Prüfung von Medikamenten ausgeschlossen?

3. Wertmaßstab kulturelle Identität

Hier wird adressiert, dass unterschiedliche Länder (hier USA und die Länder der EU) verschiedene kulturelle Wertvorstellungen haben. Für TTIP werden genannt Lebensmittelrecht, Gentechnik, Sicherheitsnormen, Umweltschutz, Arbeitsrecht, Medien, Chemikalienrecht, Fracking, Patentrecht usw.
Es ist nicht zu erwarten, dass im Konsens immer die "höchsten" Ansprüche (welche sind das?) vertraglich fixiert werden, das würde dem Ansinnen der Befürworter, nämlich Transaktionskosten zu senken, widersprechen. Im Gegenteil, es wird "Kompromisse" geben, die von einer demokratisch nicht kontrollierten Gruppe von Lobbyisten (s. Punkt 1) geprägt werden.
Es ist daher durch die demokratischen Akteure, laut  Forderung von Punkt 1 durch die Nationalstaaten, im Einzelfall zu prüfen, welche kulturellen Werte unverhandelbar bleiben sollen und welche einer internationalen und rein wirtschaftlich getriebenen Konsensfindung zur Verfügung gestellt werden sollen.

4. Wertmaßstab Institutionelle Selbstorganisation

TTIP ist ein "ungleicher Vertrag" in dem Sinn, dass ein einzelner Akteur mit einer Gruppe von Akteuren (aktuell 28 Mitgliedsstaaten der EU) verhandelt.
Die EU hat lernen müssen, dass ihre politische Selbstorganisation extrem schwerfällig geworden ist und sie einige aktuelle Probleme nicht mehr auf demokratischem Weg lösen konnte. Die Erneuerung der EU-Verfassung scheiterte 2005 und wurde mit Mühe 2009 durch den abgeschwächten Lissabon-Vertrag ersetzt. Finanzkrise und Eurokrise wurden teilweise durch "Krisensitzungen" bearbeitet, deren Entscheidungen streckenweise die politische Legitimation fehlte. Es scheint heute unmöglich, den Maastricht-Vertrag von 1992 um Korrekturmaßnahmen, d. h. z. B. um ein geordnetes Euro-Ausstiegsprozedere, zu erweitern.
Die Reaktionsfähigkeit auf äußere Veränderungen ist eine wesentliche Komponente stabiler Institutionen / Gesellschaften (s. Allmenderegeln nach Elinor Ostrom).

Für TTIP ist also zu prüfen, ob real und zeitnah gangbare Änderungs- und Ausstiegsklauseln bestehen. Wegen der oben dargestellten institutionellen "Selbstfesselung" der EU ist dafür vermutlich die nationale Ebene zielführend.

5. Wertmaßstab Globalisierung

Die kritiklose Wertschätzung des Neoliberalismus im Sinn z. B. von Milton Friedman (Chicagoer Schule), der den "freien Markt" ohne Eingriff des Staates, unter der Annahme rationalen Handelns und allgemein verfügbarer Information, als das wirtschaftlich erfolgreichste Modell definierte, ist spätestens seit der globalen Finanzkrise 2008 gebrochen. Die Deregulierung erzeugte nicht Stabilität, sondern wirtschaftliche Blasen und Crashs, und einige Akteure (Finanzwirtschaft) bedienten sich aus den Taschen anderer Akteure (Realwirtschaft, Steuerzahler).
In diesem Zusammenhang ist auch der Wert der Globalisierung zu hinterfragen. Schon die Kolonialzeit zeigte, dass die Globalisierung Gewinne von schwächeren zu stärkeren Akteuren verschiebt. Als drastisches Beispiel können die Opiumkriege von England gegen China im 19. Jh. gelten, in denen England die Öffnung der Märkte und die Verkaufserlaubnis von Opium erzwang.
Heute werden z. B. regionale Lebensmittelmärkte in ärmeren Ländern durch billige Importe aus der Intensivlandwirtschaft bedroht, oder T-Shirts unter "kostengünstigen" Sozialstandards in asiatischen Ländern gefertigt, während der Großteil des Profits bei Weiterverarbeitern und Händlern liegt.
Als ein emotionales Flaggschiff der TTIP-Gegner kann hier das "Chlorhühnchen" genannt werden. Wird diese - billigere und nach europäischer Vorstellung noch weniger artgerechte  - Massentierhaltung zugelassen, würden die "glücklicheren" europäischen Hühner aus dem Markt gedrängt (s. auch Punkt 3).
Mit Bezug auf den Wertmaßstab Globalisierung ist vor allem zu prüfen, ob die EU oder einzelne Mitgliedsstaaten auf der Gewinner- oder auf der Verliererseite gegenüber den USA sitzen. Überspitzt formuliert: Wer ist England, wer ist China?   

6.Wertmaßstab Nachhaltigkeit

Heute wird von einer zunehmenden Zahl von Menschen angenommen, dass das dauerhafte und streckenweise exponentielle Wachstum von Weltbevölkerung, Ressourcenverbrauch und Abfallerzeugung (inklusive der Klimagase) die globale Kapazität überfordert und, neben anderen Konsequenzen, zur Zunahme von sozialen Spannungen, von Verteilungskriegen und letztlich zu einem Bevölkerungskollaps führen wird. Im Fokus stehen nicht mehr chemische Ressourcen wie Öl, sondern die Biosphäre und die "Müllhalden" Atmosphäre, Meere und Boden.
Nach dieser Logik ist ein quantitatives Wachstum (im Sinne von Population, ressourcenverbrauchenden Wirtschaftsgütern, Nahrung oder fossil betriebenem Warentransport) nicht mehr opportun.
Folgt man diesem Wertmaßstab, so wäre ein internationales Wirtschaftsabkommen darauf zu prüfen bzw. zu optimieren, dass nachhaltige Wirtschaftshandlungen gefördert werden, "ressourcenkapitalintensive" Wirtschaftshandlungen jedoch nicht.


Februar 2015





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