EU-Wahlanalyse 2019: "Volksparteien" Konservative und Sozialisten verlieren absolute Mehrheit
Wahl zum Europäischen Parlament 2019 - eine Analyse
Juni 2019
Wahlergebnis der EU-Parlamentswahlen 2019 GUE/NGL Linke; S&D Sozialdemokraten; Grüne/EFA Grüne; Renew Europe Liberale; EVP Christdemokraten; EKR Konservative Reformer; EFDD EU-Skeptiker, ID Rechtspopulisten (Sonstige und NI fraktionslos) Stand 20.6.19 Quelle: EU (1) |
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Im Mai 2019 fand eine Wahl zum EU-Parlament statt. In vielen Ländern wurde die EU als wenig schlagkräftig und nicht die Interessen der Nationen wahrnehmend empfunden (s. auch Standortbestimmung 2018). Die spannende Frage war also: Würden die "EU-kritischen" Parteien deutlich an Einfluss gewinnen?
Die erste Überraschung war die Wahlbeteiligung. Sie stieg um 19 % auf 50,6 %. Während sie in vier Ländern signifikant sank (Irland, Italien, Portugal, Belgien), waren die höchsten Steigerungen in Polen (+92 % auf 45,7 %), Slowakei (+73 % auf 22,7 %), Rumänien (+58 % auf 51,1 %), Tschechien (+56 % auf 28,7 %), Ungarn (+50 % auf 43,4 %), Spanien (+39 % auf 60,7 %), Österreich (+30 % auf 59,8 %) und Deutschland (+27 % auf 61,4 %).
Bemerkenswert ist, dass die stärksten fünf Zunahmen alle in osteuropäischen Ländern erfolgten.
Kommentar: Dies könnte dem Streit über die Asylpolitik zuzuordnen sein.
Veränderungen der EU-Fraktionen 2014-2019 Quelle: EU (1) xx |
Ergebnis aus Sicht des EU-Parlaments
Die Tabelle rechts zeigt die Änderungen gegenüber 2014.
1. Die "klassischen" Volksparteien - Christdemokraten plus Sozialdemokraten - verloren erstmals die absolute Mehrheit im Parlament (gemeinsam minus 8,8 % auf 44,6 %).
2. Grüne (plus 3,0 %) und Liberale (die sich als reformorientierte "RE", vormals ALDE, umfirmierten, plus 5,2 %) nahmen stark zu.
3. Das Spektrum der Fraktionen, die Verschlankungsbedarf sehen bis hin zur Euro-Abschaffung, stärkerem Nationalismus und rechtsextremen Ansichten (EKR, EFDD, ID) nahm insgesamt um 3,2 % zu, mit einer Verschiebung zum rechtsextremen Rand.
4. Insgesamt ist eine leichte Verschiebung nach "rechts" zu beobachten.
Kommentar: Die gemeinhin als "weiter so" in Richtung "Superstaat" wahrgenommenen "klassischen" Volksparteien verloren an Stimmen, wohingegen diejenigen, die dringenden Reformbedarf sehen, in Richtung Machtreduzierung von Brüssel / Subsidiaritätsprinzip / Betonung der Eigenständigkeit der Nationen / Freiwilligkeit der Zusammenarbeit Stimmen gewonnen haben. Wohl eher überraschend kam die hohe Steigerung der Grünen; auch hier wurden die Volksparteien offenbar wahrgenommen als nicht willens, die drängenden ökologischen Probleme anzupacken.
Ergebnis aus Sicht der Nationen
Es folgen einige willkürlich ausgewählte Länderbeispiele, in denen die jeweils größten Stimmenanteile bezüglich ihrer Veränderung gegenüber der EU-Wahl von 2014 analysiert sind. (2)
1. Deutschland
EVP (CDU/CSU) minus 15 % auf 30,2 %; Grüne (Grüne) plus 91 % auf 21,8 %; S&D (SPD) minus 41 % auf 16,7 %; ID (AfD) plus 57 % auf 11,5 %; RE (FDP) +67 % auf 5,2 %.
Kommentar: Der Absturz der "Volksparteien" war deutlich ausgeprägter als im EU-Durchschnitt. Dies spiegelte die nationale Stimmungslage wider: Die Regierung hatte weder die Migrationsthematik noch die Umweltthematik zur allgemeinen Zufriedenheit bearbeitet, was den Anstieg von AfD und Grünen zur Folge hatte.
2. Großbritannien
EFDD (Brexit Party, gegründet April 2019) plus 21 % (gerechnet gegenüber UKIP) auf 39,7 %; RE (Libdem) plus 1500 % auf 21,9 %; Grüne (Green Party) plus 83 % auf 9,6 %; S&D (Labour) minus 50 % auf 13,7 %; EVP (Conservatives) minus 79 % auf 5,5 %.
Kommentar: Die Wahl reflektierte natürlich die Brexit-Verhandlungen. Für einen klaren Brexit "koste es was es wolle" stimmten knapp 40 %, gegen einen Brexit (Libdem) bzw. für eine neue Abstimmung (Green Party) stimmten rund 32 %. Die aktuellen Hauptverhandlungsführer Conservatives (Premierministerin Theresa May) und Labour (mit Abstand zweitgrößte Partei im Unterhaus) wurden offenbar für ihr schlechtes Verhandeln abgestraft (zusammen 19 %). Die Gesellschaft war also weiterhin extrem gespalten. Neue bzw. kleinere Parteien - Brexit Party "dafür" / Libdem "dagegen" - haben damit das traditionelle Zweiparteiensystem Großbritanniens aufgebrochen.
Bemerkenswert war auch die nahezu Verdoppelung der Grünen, eine ähnliche Entwicklung wie in Deutschland.
3. Italien
ID (Lega Nord) plus 460 % auf 38,3 %; S&D (PD) minus 39 % auf 26,0 %; EFDD (M5S) minus 18 % auf 19,2 %; EVP (Forza Italia) minus 54 % auf 8,2 %; EKR (Fratelli d'Italia) plus 200 % auf 6,8 %.
Kommentar: Zum Zeitpunkt der Wahl bestand die italienische Regierung aus den beiden als populistisch bezeichneten M5S mit dem kleineren Partner Lega Nord. In der EU-Wahl fand ein Erdrutsch von links nach rechts statt, die Lega Nord erreichte rund doppelt so viele Stimmen wie ihr größerer Partner in der Regierung. Ursache war sicherlich die härtere Haltung der Lega Nord zur Einwanderungspolitik (3). Die Altpartei der Sozialisten (PD) fiel stark zurück auf ein Viertel der Gesamtstimmen. Die Forza Italia, deren Vorsitzender Berlusconi lange Jahre ständig in Skandale verwickelt war, verlor gut die Hälfte ihrer Wähler. Auf der anderen Seite verdreifachte die aus faschistoiden Wurzeln hervorgegangene rechtsnationale Fratelli d'Italia ihren Stimmenanteil.
Generell ist festzuhalten, dass knapp 65 % aller Stimmen auf "EU-kritische" EU-Fraktionen entfielen. Neben der Unzufriedenheit mit der Einwanderungspolitik - Italien ist eines der Haupt-Eintrittsländer der Migration - dürfte ein weiterer Grund die Wahrnehmung der Europolitik sein. Der Maastricht-Vertrag und die daraus abgeleiteten Austeritätsregeln wurden von der populistischen Politik als "Ausbeutung durch den Norden" dargestellt. Dass ein Kernproblem des Euro - Fixierung sich wirtschaftlich unterschiedlich entwickelnder Länder in einem festen Wechselkurs - in diesem selbst liegt, steht auf einem anderen Blatt.
4. Polen
EKR (Schwerpunkt PiS) plus 37 % auf 51,0 %; EVP (PO / weitere) minus 26 % auf 33,3 %.
Kommentar: Die nationalkonservative PiS, die mit absoluter Mehrheit die Regierung stellt, und die seitens der EU unter Beobachtung steht, da sie die Macht der Gerichte eingeschränkt hat und ihr daher autokratische Tendenzen zugeordnet werden, gilt als EU-skeptisch, im Gegensatz zur liberalkonservativen PO und deren Koalitionären. Der Wahlausgang, bei einer Verdoppelung der Wahlbeteiligung (s.o.), zeigte deutlich die Unzufriedenheit mit dem aktuellen System der EU. Dies könnte repräsentativ sein für die Interessendivergenz der osteuropäischen Länder vor allem gegenüber Deutschland, was die Migrationspolitik betrifft.
5. Dänemark
RE (V / RV: Liberale Parteien) plus 70 % auf 38,5 %; S&D (S) plusminus 0 % auf 23,1 %; Grüne (SF) plus 50 % auf 15 %; ID (DF) minus 67 % auf 7,6 %.
Kommentar: Die nationalistischen EU-Kritiker (DF) verloren stark, während die Liberalen "EU-Reformer" mehr als ein Drittel aller Sitze errangen. Das konstante Abschneiden der Sozialdemokraten - gegen den negativen EU-Trend - wurde dem Umschwenken auf eine striktere Einwanderungspolitik zugeordnet (4). (Nur wenige Tage später fand in Dänemark die Parlamentswahl statt und die Sozialisten konnten dank eines starken Verlustes der konservativen Dänischen Volkspartei die stärkste Fraktion werden und später die [Minderheits-]Regierung bilden.)
Auch in Dänemark legten die Grünen, wie in Deutschland und Großbritannien, deutlich zu.
6. Tschechien
Mit einer immerhin um 50 % gestiegenen, jedoch traditionell niedrigen Wahlbeteiligung von knapp 30 % (s.o.) sei die Analyse vereinfacht dargestellt:
Kommentar: Die "klassischen" Volksparteien gewannen mit der EVP nur noch 23,8 % der Sitze (S&D 0 %), während die "EU-Kritiker" auf 57,1 % wuchsen (davon 60 % Liberale RE, 40 % konservative Reformer EKR, 20 % Rechtspopulisten ID). Die der Grünen-Fraktion beigetretenen Pirati, die ihren Schwerpunkt weniger auf ökologischen Themen hat, vertritt auch eine "EU-kritische" Position, indem sie mehr Subsidiarität und Bürgerbeteiligung fordert. Insofern gehen weitere 14,3 % auf das Konto der "EU-Kritiker", das somit 71,4 % beträgt.
7. Frankreich
ID (FN heute RN) minus 4 % auf 29,7 %; RE (LREM / div) neu auf 28,3 %; Grüne (2014 EE, 2019 EELV) plus 100 % auf 16,2 %; EVP (2014 UMP, 2019 LR) minus 60 % auf 10,8 %; GUE/NGL (div linke) plus 50 % auf 8,1 %; S&D (PS / div) minus 62 % auf 6,8 %.
Kommentar: Der rechtsnationalistische RN (Parteivorsitzende Marine Le Pen) und die liberale LREM (Gründer 2016 Macron, der seit 2017 Präsident ist) lagen mit je knapp einem Drittel der Stimmen nahezu gleichauf. Macron vertritt Positionen "Mehr Europa ist besser" und könnte damit die Meinungsbildung innerhalb der RE beeinflussen (s.u. Beschreibung der Fraktionen). Auch die Franzosen sind also tief gespalten, was die Meinung über mehr oder weniger Europa, mehr oder weniger Nationalismus angeht.
Die Grünen verdoppelten ihren Stimmanteil, während die klassischen "Altparteien" Republikaner (LR) und Sozialisten (PS) zusammen nur noch auf rund 17 % kamen.
In Frankreich führte der Trend des Vertrauensverlustes in die "klassischen" Volksparteien in der Person und Bewegung von Macron interessanterweise zu einer neuen Besetzung der (liberalen) Mitte, im Gegensatz zu anderen Staaten.
Ergebnis aus Sicht der EU-Fraktionen
Es folgt eine Beschreibung der Fraktionen des europäischen Parlaments entsprechend ihrer Sitzordnung.
Die politische Position ist jeweils aus deren homepage (5) entnommen - wobei dem Leser klar sein sollte, dass der wahre Kern, d. h. das tatsächliche politische Agieren einer Fraktion oder einer darin vertretenen nationalen Partei, nur sehr unvollständig von einer wahlkampftaktisch geprägten Selbstdarstellung abgebildet wird.
Die Liste der jeweils größten nationalen Mitgliedsparteien soll transparent machen, welche Parteien aus welchen Ländern sich für welche EU-Fraktion entschieden haben. Kleinere Mitgliedsländer werden bei dieser Betrachtung notgedrungen kaum analysiert.
GUE/NGL - Linke
Politische Position: Bessere Jobs, soziale Sicherheit und Solidarität, Umweltschutz, kultureller Austausch und Diversität, Friedenspolitik, Anti-Rassismus
Größte nationale Mitglieder nach Sitzen: Deutschland 6 (Linke), Griechenland 6 (Syriza), Spanien 6 (div), Frankreich 6 (FI), Irland 4 (div), Portugal 4 (div)
S&D - Sozialisten
Politische Position: Gerechtere Gesellschaft, Solidaritätspakt für Europa, größeres EU-Budget für die Bekämpfung von Ungleichheiten, Solidarität für die Bewältigung der Migration, Entscheidungsverteilung auf mehr (kleinere) Staaten, fairer Handel
Größte nationale Mitglieder nach Sitzen: Spanien 20 (PSOE/PSC), Italien 19 (PD), Deutschland 16 (SPD),Großbritannien 10 (Labour), Portugal 9 (PS), Rumänien 9 (PSD), Polen 8 (div)
Kommentar: Gemäß ihrem Handeln in der Vergangenheit (in absoluter Mehrheit gemeinsam mit EVP) und gemäß ihrem Programm sind sie unter "Mehr Europa ist besser" einzuordnen.
Grüne/EFA - Grüne
Politische Position: Bekämpfung des Klimawandels, Erhalt der Artenvielfalt, Steuergerechtigkeit inklusive Besteuerung von Großunternehmen, Lockerung der Einwanderungspolitik für Schutzsuchende mit gerechter Verteilung, Eurozonenbudget (zur Stabilisierung des Euro), fairer Handel (nicht optimiert für Großkonzerne, sondern für die Gesellschaft und nachhaltig)
Größte nationale Mitglieder nach Sitzen: Deutschland 25 (Grüne/div), Frankreich 12 (EELV), Großbritannien 11 (GP/div), Niederlande 3 (Groenlinks), Spanien 3 (div), Tschechien 3 (Pirati), Belgien 3 (Ecolo)
Kommentar: Teile des Programms können linken Positionen zugeordnet werden (Lockerung der Einwanderungspolitik), jedoch ist keine eindeutige Position zu "mehr" (Ausnahme: Eurozonenbudget) oder "weniger" Europa oder zur Reformbedürftigkeit abzulesen.
RE (Renew Europe) bisher ALDE - Liberale
Politische Position: Pro Europa, jedoch tiefgreifende Reformen notwendig, damit es nicht zerstört wird; Konzentration auf gemeinsame Werte (Demokratie, Menschenrechte, europäische Identität); Ziel: Neue Jobs, Sicherheit, Wohlstand
Größte nationale Mitglieder nach Sitzen: Frankreich 21 (LREM /div), Großbritannien 17 (Libdems), Spanien 8 (C’s), Rumänien 8 (div), Deutschland 7 (FDP/FW), Tschechien 6 (ANO), Niederlande 6 (VVD), Dänemark 5 (div)
Kommentar: Das Programm sieht tiefgreifenden Reformbedarf. Es ist zu vermuten, dass als Messlatte Marktwirtschaft und Wirtschaftswachstum im herkömmlichen Sinn dienen, d. h. die Bewahrung des Binnenmarktes und eine starke außenwirtschaftliche Position eines einheitlich auftretenden Europa. Zu Nachhaltigkeit / Berücksichtigung externer Kosten / Umwelt konnte keine Positionierung auf der homepage gefunden werden. LREM (Frankreich) steht deutlich für eine Vertiefung der EU-Befugnisse.
EVP - Konservative/Christdemokraten
Politische Position: Stärkeres Europa, konkurrenzfähigerer Arbeitsmarkt, Agrarsubventionierung, eigenes EU-Budget, arbeitsmarktorientierte Einwanderungsgesetze, erfolgreiche Kontrolle von Sozialbetrug, wirksame Kontrolle der Außengrenzen, Reform der Eurozone, Forschung und Entwicklung, Schutz der Industrie
Größte nationale Mitglieder nach Sitzen: Deutschland 29 (CDU/CSU), Polen 17 (div), Rumänien 14 (PNL/div), Spanien (12 PP), Ungarn 13 (FIDESZ/KDNP), Frankreich 8 (LR), Griechenland 8 (ND), Bulgarien 7 (GERB), Österreich 7 (ÖVP), Italien 7 (FI/div), Portugal 7 (PSD/div)
Kommentar: Die EVP steht offenbar und bisher für einen Ausbau des Brüsseler Zentralismus. Dies erschließt sich auch aus dem bisherigen Mehrheitshandeln (mit der S&D, s.o.).
EKR - "Konservative und Reformer"
Politische Position: EU „zurückführen auf gesunden Menschenverstand“, „Kooperation ja – Superstaat nein“, Dezentralisierung, Euro-Reform, innere und äußere Sicherheit; Migrationspolitik, die jedes Land mittragen kann; Kontrolle und Sanktionierung von Missbrauch des Asylrechts; kostenoptimierte Energiewende (CO2-Zertifikate); Freihandel, Wirtschaftswachstum
Größte nationale Mitglieder nach Sitzen: Polen 26 (PiS), Italien 5 (FDI), Tschechien 4 (ODS), UK 4 (Cons), Niederlande 4 (FvD), Belgien 3 (N-VA), Schweden 3 (SD), Spanien 3 (VOX)
Kommentar: Die EKR ist für eine Reduzierung der Brüsseler Kompetenzen zugunsten nationaler Entscheidungen (z. B. bei der Migrationspolitik) und zugunsten des "Machbaren".
EFDD - EU-Skeptiker/Populisten
Politische Position: Souveräne Nationen statt EU-Superstaat, weniger EU-Bürokratie; Demokratie durch Souveränität der Mitgliedsstaaten; nationale Kulturwerte; Ablehnung von Fremdenhass, Abschaffung des Euro
Größte nationale Mitglieder nach Sitzen: Großbritannien 29 (Brexit Party), Italien 14 (M5S) (keine weiteren)
Kommentar: Diese Fraktion wird von nur zwei Parteien gebildet: Die Brexit Party steht für den Austritt Großbritanniens (hat also zur EU keine eigene Meinung mehr) und M5S (Italien) steht u.a. für die Option eines Euroaustritts und für mehr Basisdemokratie. Möglicherweise war die Position der M5S zum Euro der Grund, warum sie - wie schon in der Vorwahlperiode - eine eigene Fraktion aufgemacht hat und nicht der EKR beigetreten ist.
ID (Identität und Demokratie) bisher ENF - Rechtspopulisten / Rechtsextreme
Politische Position: Kooperation zwischen den Staaten statt Superstaat; keine weitere Abgabe nationaler Rechte an die EU; kulturelle und soziale Selbstbestimmung der Staaten (inklusive Einwanderung); keine Zusammenarbeit mit autoritären Projekten
Größte nationale Mitglieder nach Sitzen: Italien 28 (LN), Frankreich 22 (RN), Deutschland 11 (AfD), Österreich 3 (FPÖ), Belgien 3 (Fl Belang), Finnland 2 (PS), Tschechien 2 (SPD)
Kommentar: Weniger Europa mit Betonung der nationalen Souveränitäten, Schwerpunkt typischerweise Migrationspolitik.
Die polnische PiS, die französchische LREM und die italienischen M5S und LN sind die einzigen Regierungsparteien, die sich außerhalb des bisherigen EU-Mehrheitslagers Konservative / Sozialisten platziert haben.
Zusammenfassung
Nationale Wahlergebnisse der EU-Fraktion Grüne/EFA Angaben in Prozent (2) xx |
Die größten Verlierer waren die "klassischen" Volksparteien der Konservativen und Sozialisten, die mit gemeinsam knapp 9 % Verlust die absolute Mehrheit verloren und damit für ihre bisherige "Regierungs-"Politik abgestraft wurden. Die bisherigen Lösungsansätze für Eurokrise, Migrantenkrise und Umweltkrise, auch der Umgang mit der Informationstechnologie (Besteuerung, Datenverwaltung), sowie die bisher vertretene Losung des "mehr Europa löst alle Probleme" wurden nicht als gut empfunden.
Den größten Zuwachs erlebten die Liberalen mit gut 5 %, sitzmäßig im Wesentlichen bedingt durch Frankreich, dessen Regierungspartei in das Lager der (liberalen) Reformer gewechselt ist, sowie durch Großbritannien, wo die Liberaldemokraten massiv zunahmen als "Remainer-"Partei mit ebenfalls Reform-Ansprüchen. Frankreich (Macron) spricht allerdings für mehr gemeinsame EU-Institutionen und größere gemeinsame Budgets und eher für einen Wohlfahrt-Superstaat als für Wettbewerb (Gedankengut eher aus dem sozialistischen als aus dem liberalen Baukasten), sodass abzuwarten bleibt, in welche Richtung die RE-Fraktion steuern wird.
Den zweitgrößten Zuwachs erhielt das rechtsnationale Lager (gut 3 % unter Abzug der Verluste der gemäßigt rechten Fraktion EKR). Im EU-Parlament ist ein Rechtsruck zu populistischen Parteien zu beobachten. Das Thema der Migration dürfte der Hauptgrund sein, wobei Deutschland durch sein unabgestimmtes Verhalten 2015 (Öffnung der Grenzen) sicherlich mit eine Hauptverantwortung trägt.
Den drittgrößten Zuwachs erreichten die Grünen mit 3 %.
Nur 16 von 28 Länder erzielten mindestens einen Sitz. Die Karte rechts zeigt die regionale Verteilung. Es fällt auf, dass die Grünen im Norden und Westen stark vertreten sind, im Süden mit Spanien und Portugal eher schwächer, in Italien überhaupt nicht (6). Der Osten von Polen bis Bulgarien sowie Griechenland fehlen komplett.
Man kann spekulieren, ob dies mit dem Einkommen zusammenhängt, wobei Portugal, Estland, Litauen, Tschechien, Slowakei und Griechenland im Bereich von 20 000 US$ pro Kopf in einem ähnlichen Bereich liegen, Polen liegt mit 15 000 US$ pro Kopf etwas tiefer. In drei dieser unterdurchschnittlich wohlhabenden Staaten haben Grüne Sitze erzielen können. Italien mit 34 000 US$ pro Kopf ist ein auffälliger Einzelfall.
Die Grünen vertreten typischerweise auch eher linke Positionen. Eine zweite Spekulation wäre, dass das ihnen in den Ländern schadet, die z. B. wegen der Migrationsthematik eher rechts wählen.
Zitate
Europa am Scheideweg
"Europas Potential liegt weder in der Schaffung eines transnationalen Wohlfahrtsstaats mit kopflastiger Bürokratie noch in der Kopie des chinesischen Staatskapitalismus. Europa muss nach innen wie nach außen auf eine Kultur der Freiheit, der Dezentralität, der Offenheit und des Wettbewerbs setzen. Dann hat es die besten Chancen, Wohlstand und Sicherheit seiner Bürger zu fördern und die politische Integration zu erreichen." (7)
PiS siegt in Polen deutlich
"...die Motive der PiS-Wähler...[seien] 'Geld, Patriotismus, Tradition'. Der alte 'Mythos des Westens' sei zerbrochen: Die PiS habe den Polen die in Westeuropa übliche soziale Sicherheit gegeben und zugleich die innere Sicherheit hochgehalten, die etwa in Frankreich nicht mehr gewährleistet sei. Viele Wähler hätten zudem den Eindruck gewonnen, 'dass es in der EU keine Gemeinschaft gibt, dass man daher diejenigen stärken muss, die die Interessen ihres Landes hart vertreten.'" (8)
Das Klima kippt, und die soziale Balance kippt mit
"...es gilt, den Blick aus dem Rückspiegel auf den Horizont zu lenken, auf die neuen Pfade, Chancen und Allianzen, die besonders Europa bietet. Es geht um den Mut, sich einer Herausforderung zu stellen, die wissenschaftlich nüchtern betrachtet wirklich bedrohlich ist und die wir nur mit gemeinsamem Gestaltungswillen meistern werden. Die gute Nachricht ist: Auch in sozialen Systemen gibt es Kipppunkte. Wenn zu viele Menschen sich in der Gegenwart gefangen fühlen, können die politischen Blockaden überwunden werden." (9)
Quellenangaben und Kommentare
(1) Internetseite der EU: https://europa.eu/european-union/index_de , dort "Ergebnisse der EU-Wahl 2019"
(2) Die Prozentangaben beziehen sich auf die Sitze, nicht auf die Zahl der Stimmen
(3) Die italienische Lega zur Migration: "Forderung nach 'legaler, qualifizierter und positiver Einwanderung'"; "entschiedener Kampf gegen illegale Migration". Quelle: FAZ vom 29.5.19, "Lega erobert Italiens Rathäuser"
(4) Forderungen der Dänischen Sozialisten zur Migration z. B. eine Obergrenze für "nicht-westliche" Migranten; Asylantragstellung auswärts, z. B. in Nordafrika; Schutz des dänischen Wohlfahrtsstaats. Quelle: FAZ vom 5.6.19, "Platz für alle, die wollen?"
(5) Quellenangaben der EU-Fraktions-homepages: www.guengl.eu www.socialistsanddemocrats.eu www.greens-efa.eu www.reneweuropegroup.eu www.eppgroup.eu https://ecrgroup.eu www.efddgroup.eu www.enf.eu
(6) Die italienische grüne Koalition FdV erreichte 2,9 %, was nicht für einen Sitz reichte.
(7) FAZ vom 1.4.19, "Europa am Scheideweg", Prof. H. Hennecke (Politikwissenschaft)
(8) FAZ vom 28.5.19, "PiS siegt in Polen deutlich"
(9) Quelle: FAZ vom 28.5.19, "Das Klima kippt, und die soziale Balance kippt mit"