Standortbestimmung der Institution "EU" nach innen (Nationen) und nach außen (Welt)
Europäische Union - Standortbestimmung
Stand Februar 2015
Schlagzeilen der vergangenen Wochen: Ukrainekrise, Islamischer Staat, Charlie-Hebdo-Attentat in Paris, 1-Billionen-Euro-Aufkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB), Pegida, Griechenlandwahl mit Sieg der Linken.
Die folgende Standortbestimmung bezieht sich auf die Europäische Union (EU) als politische Institution, gebildet durch ihre Mitgliedsstaaten, und agierend nach innen (EU-Staaten) und außen (Restwelt).
Sie stellt eine persönliche Meinung des Autors dar.
1. Interaktion EU-Mitgliedsstaaten ("Innenverhältnis")
1.1. Euro
Der real existierende Euro ist als Projekt gescheitert, sofern keine Austrittsmöglichkeit besteht. Sowohl wirtschaftlich - das stets neu gedruckte und verliehene Geld verhindert Reformen, dabei gibt es viele Verlierer und einige Gewinner - als auch politisch - die Funktionalität der EU ist durch finanzwirtschaftliche Interessenkonflikte der einzelnen Länder zunehmend bedroht.
Der "perverse Anreiz" der Wahlversprechen mit fremdem Geld zerstört unsere demokratischen Systeme. Rechte und Pflichten (das nationale Recht, zu wählen, verbunden mit der Pflicht, die nationale Regierung mit ihren Entscheidungen zu ertragen) werden bestechungsartig durch Fremdmittel beeinflusst (siehe auch "Sind die Reformer die Dummen", FAZ vom 2.2.15).
Die tiefere Ursache für das Scheitern ist die Unfähigkeit der wirtschaftlich so unterschiedlich leistungsfähigen Staaten, die Konvergenz zu erreichen, die die Maastricht-Kriterien schon 1992 als Voraussetzung und Bedingung für den Erfolg des Euro formulierten.
Der Profit der Exportländer durch den relativ zu niedrigen Euro ist unmoralisch, da er auf dem Schaden durch den relativ zu hohen Euro der schwächeren Länder beruht. Zudem ist er auf Sand gebaut: Deutschland beispielsweise hat ein positives Target-2-Saldo bei der EZB von etwa 450 Mrd. Euro (Stand 9/2014) und trägt damit über Dreiviertel der diversen Nationalbanken-Schulden.
Die Lösung ist, im Bedarfsfall zu auf- und abwertbaren nationalen Währungen zurückzukehren. Für Abwertungsländer ist hierfür ein Schuldenschnitt erforderlich (Beispiel Griechenland: 2012 fanden bereits direkte und verdeckte Schuldenschnitte statt [ca. 105 bzw. 45 Mrd. Euro]. Bei einer angenommenen Abwertung um z. B. 40 % sollte die Staatschuld in Euro auf etwa 50 % gesenkt werden, das wäre ein dritter Schuldenschnitt von ca. 150 Mrd. Euro).
Dass die EZB als nichtdemokratische ("unabhängige") Behörde inzwischen von der klassischen Aufgabe der Geldpolitik (Steuerung der Geldmenge im Verhältnis zur Realwirtschaft) zur euro-regelwidrigen Staatenfinanzierung überging, d. h. für den kurzfristigen Erhalts des Euros "koste es was es wolle" kämpft, was nicht ihre Aufgabe ist, ist eine indirekte Folge des Scheiterns des Europrojektes in seiner jetzigen Form.
1.2. Einwanderung
Das Thema Einwanderung hat in vielen europäischen Ländern einen emotional hohen Stellenwert in der Öffentlichkeit angenommen. Verschiedene Themenkreise, wie Fachkräftemangel / echte Asylanten / Scheinasylanten / "Sozialtouristen" (Einwanderer in fremde Sozialsysteme) / Reisefreiheit innerhalb der EU / religiöse oder kulturelle Abgrenzung werden von den unterschiedlichen Interessengruppen gegeneinander ausgespielt. Viele Wähler fühlen den - evolutionär tief verankerten - Wunsch, verlässliche und bekannte Nachbarn zu haben, denen man trauen kann, durch die traditionellen Parteien nicht hinreichend vertreten, wie die Wahlerfolge von fremdenkritischen bis fremdenfeindlichen Parteien zeigen (z. B. Großbritannien, Frankreich, Schweden, Dänemark, Finnland, Niederlande, EU-Wahl 2014; entsprechend Deutschland [Zulauf zur neuen Protestpartei AfD, Pegida-Bewegung] sowie Schweiz [als nicht-EU-Land]).
Aufgrund der demographischen und wirtschaftlichen Situation Europas werden die von der Wirtschaft gewünschten Arbeitskräftewanderungen wohl zunehmen. Die geopolitische Sicherheits- und Wohlstandslage wird den Einwanderungsdruck auf "die reiche und friedliche Insel" Europa verstärken. Mangelnde Kontrollen (von den Mängeln des Schengenabkommens bis zu den Nichtaufklärungsquoten hoheitlicher Sicherheitsdienste) locken Betrüger, Verbrecher und Profiteure.
Auch bei diesem Thema hat die EU Regeln geschaffen (Schengen-Abkommen), deren Wirkung, vor allem deren Mißerfolge, die Nationalstaaten nicht mehr eigenständig kontrollieren können. Dies treibt die Wähler in europakritische Parteien, was zu einer Unregierbarkeit der EU führen kann.
Die Lösung muss lauten, dass Parteien, die die Meinung vertreten, dass die europäischen Nationalstaaten durch konzertierte Zusammenarbeit auf gewissen Gebieten einen gemeinsamen Vorteil erreichen können, die Schwächen dieser Zusammenarbeit soweit minimieren, dass die Wähler einen Nettonutzen sehen.
2. Interaktion EU - Rest der Welt ("Außenverhältnis")
2.1. China
China hat seit der Revolution unter Mao eine in der Geschichte bisher unbekannte "staatsgenetische Mutation" hervorgebracht, die einer Kombination von politischer Diktatur mit Wirtschaftskapitalismus. Diese hat sich seit Jahrzehnten als außerordentlich erfolgreich erwiesen.
Die EU muss sich damit auseinandersetzen, mit einem wirtschaftlich / politisch / militärisch immer stärkeren Partner / Konkurrenten / Gegner konfrontiert zu sein.
Die bisher häufig verfolgte Strategie der Kombination von Menschenrechtsgesprächen mit Wirtschaftsverträgen sollte überdacht werden, in Hinblick auf die zunehmende Macht Chinas in Relation zu Europa.
2.2. Russland / Ukraine
Das politische und wirtschaftliche Ringen um Einflussnahme in der Region zwischen EU und Russland haben zu einem Bürgerkrieg "mit Einmarschcharakter" in der Ukraine geführt.
Europa ist in Bezug auf "Einmärsche" historisch durch das Dritte Reich belastet; es gibt die Meinung, dass die Machtentwicklung Deutschlands unter Hitler nur durch die Appeasement-Politik Resteuropas vor 1939 so möglich geworden sei.
Die friedlichen Wirtschaftssanktionen unter anderem der EU gegenüber Russland setzen das Zeichen, dass das Vorgehen nicht akzeptiert wird; der wirtschaftliche Niedergang Russlands (verstärkt, wenn nicht sogar hauptsächlich verursacht durch den Absturz der Öl- und Gaspreise) wird aber andererseits das Feindbild von seiten Russlands fördern.
Kehrt der "Kalte Krieg" wieder zurück?
2.3. Islam
Die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die im Namen des Islam begangen werden, nehmen global zu, von Zentralafrika über Pakistan / Afghanistan bis zum Nahen Osten (Irak, Syrien und Umfeld). Der "Islamische Staat" übt blutigen Terror aus. Islamisten klärten in Paris eine Meinungsverschiedenheit über die Pressefreiheit durch Mord.
Die Antwort Europas auf die Attentate in Frankreich ist eine Verunsicherung. Ist es korrekt zu sagen, der gewalttätige Islamismus sei Sache des Islam? Oder konkreter, ist es allein Aufgabe des "westlichen" Staates / der "westlichen" EU, durch Terrorabwehr für die innere Sicherheit zu sorgen, oder ist es nicht auch Aufgabe der islamischen Gesellschaftsteile, verantwortlich für Frieden aus ihren Reihen einzutreten und zu sorgen?
Wie sollte sich eine religiöse Kultur, die sich über die Generationen hinweg nicht "spurlos" assimiliert, in den Kultur- und Rechtsraum der EU integrieren, sodass das Gemeinwesen prosperiert?
Es ist eine der Hauptaufgaben einer staatlich-gesellschaftlichen Institution (Nationalstaaten, EU), den inneren Frieden zu garantieren. Die Suche nach einem zielführenden Weg, zwischen Verbrechensbekämpfung, Kontrolle und Integration, inklusive eines laufenden und öffentlichen Diskurses über die Rollen von islamischen und nichtislamischen Mitgliedern der Institution, ist für die einzelnen Nationalstaaten und die EU notwendig für ein friedliches Zusammenleben.
2.4. Umwelt / Klima / Wachstum
Der Weltgemeinschaft ist es noch nicht gelungen, das Artensterben zu stoppen, den Klimawandel abzuwenden und das Wachstum - der Bevölkerung und des Ressourcenverbrauchs - zu bremsen.
Die EU, solange sie noch erfolgreich existiert, spielt hierbei als einer der großen Wirtschafts-, Macht- und Öffentlichkeitsblöcke der Erde eine wesentliche Rolle.
Vor allem die kurzfristig wirksamen internen Probleme aus (1) haben den Fokus von diesen längerfristigen Problemen im vergangenen Jahrzehnt erkennbar abgelenkt. Der Erdgipfel in Rio de Janeiro der Vereinten Nationen (UN) (1992), das Kyoto-Protokoll zum Klimaschutz (UN; 1997), Energiewendeziele (EU) und der Umbau der EU-Agrarsubventionen auf eine ökologischere Landwirtschaft sind etwas in Vergessenheit geraten bzw. leiden unter stärker gewordenem Gegen-Lobbyismus.
Das Erledigen der EU-internen Hausaufgaben bezüglich politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Stabilität sind Voraussetzung dafür, als Akteur bei der Behandlung globaler und langfristiger Aufgaben teilnehmen zu können.
2.5. Änderungsfähigkeit
Der immer raschere Technologiewandel bewirkt einen immer rascheren gesellschaftlichen Wandel. Dieser kann - siehe z. B. Internet, soziale Netzwerke, Datenspeicherung, Finanzwirtschaft, Gentechnologie - das Bruttosozialprodukt steigern (oder auch senken), die Ungleichverteilung von Einkommen erhöhen, Profiteure und Geschädigte in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht schaffen.
Deshalb ist eine hinreichend schnelle Änderungsfähigkeit der Gesetzgebung und der Kontrollen / Regulierungen erforderlich, was zunehmend Schwierigkeiten zu machen scheint. Ein bekanntes Beispiel hierzu ist die globale Finanzkrise 2008, deren Ursachen nach kurzer Zeit ermittelt waren - Korrekturmaßnahmen sind jedoch noch heute nicht hinreichend beschlossen und umgesetzt.
Dabei fällt auf, dass legislative Beschlüsse um so schwieriger sind, je größer die betreffende Institution ist. Der EU-Verfassungsvertrag (2004) scheiterte vollends und wurde durch den Änderungsvertrag von Lissabon (2009) ersetzt. Die EU ist durch ihre Größe (28 Mitglieder) und ihre aktuelle rechtliche Organisation nahezu veränderungsunfähig geworden. Deshalb wurden z. B. die regelmäßigen "Krisensitzungen" der akuten Eurokrise (2010-2012) in einem rechtlich zweifelhaften Raum gehalten - Parlamente wurden regelmäßig nicht in die Entscheidungen eingebunden.
Diese Problematik ist übrigens per se ein Argument gegen die Form (nicht notwendigerweise gegen den Inhalt) von Verträgen wie die "Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft" (TTIP) und ähnlichen multilateralen Abkommen. Was einmal beschlossen wurde, ist auf dem Rechtsweg kaum wieder lösbar.
Die Institution EU muss dringend daran arbeiten, dass ihre Legislative schneller, flexibler und beschlussfähiger wird. Für wichtige Themen, für die z. B. das Vetorecht eines EU-Staates nicht zumutbar ist, muss gegebenenfalls das Subsidiaritätsprinzip wieder hervorgeholt werden. Dies gilt im Innenverhältnis (Beispiel Finanztransaktionssteuer, die ein Land blockiert [Großbritannien] und mindestens 11 Länder einführen wollen) als auch im Außenverhältnis (Beispiel TTIP).
Unbedingt vermieden werden müssen Blockaden, sei es durch vertragliche Gestaltung (z. B. "Sperrklinken-Klauseln" bei TTIP), sei es durch selbstorganisierte Einigungsverhinderung (Europäische Verträge s. o.; so wurde z. B. bei der Einführung des Euro vergessen, Euro-Ausstiegsklauseln bzw. Staatsbankrott-Abwicklungen festzulegen; es wird heute kaum für möglich gehalten, dass auf dem multiparlamentarischen Rechtsweg hierüber nachträglich und zeitnah Beschlüsse vereinbart werden könnten).
2.6. Demokratie und Menschenrechte
Nach dem Ende des Kalten Krieges mit Zusammenbruch der Sowietunion 1991 war in Europa die Meinung weitverbreitet, dass sich nun die Demokratie und das "westliche System" durchgesetzt hätte, und der dauerhafte Weltfriede nahe sei.
Die Entwicklung Chinas, der islamischen Welt und vieler Einzelregionen mit teilweise blutigen Auseinandersetzungen (auch in direkter Nachbarschaft, wie Nordafrika, Naher Osten und Russland) hat uns eines Besseren belehrt.
Intra- und zwischeninstitutionelle Auseinandersetzungen über die "beste" Staatsform, genauer müsste man formulieren, über die stabilste (Innenwirkung) und mächtigste (Außenwirkung) Staatsform, sind seit der Bildung der ersten staatsartigen Organisationen vor Tausenden von Jahren der Regelfall.
Neu ist die heutige technologische Entwicklungsgeschwindigkeit (s. 2.5). Man kann die Frage formulieren, ob diese die gesellschaftliche Anpassungsfähigkeit quasi überholen und damit gesellschaftlich unkontrollierbare Konsequenzen auslösen kann.
Verwandelt die immer weiter perfektionierte Werbung den Menschen in einen willenlosen Anhänger der Konsumkultur? Facebook macht nach seinen neuen Datenrichtlinien Vorratsdatenspeicherung, Echtzeitüberwachung und Erstellung von Persönlichkeitsprofilen - 25 Millionen allein deutsche Nutzer sind etwa diesselben, die sich gegen diese Aktionen durch Staat oder Geheimdienst verwahren: Eine außerordentlich wirkungsvolle Manipulation.
Führt die Leichtigkeit, Geschwindigkeit und Oberflächlichkeit der Vernetzung über soziale Medien zu einer Emotionalisierung und Entrationalisierung der teilnehmenden Menschen? "Shit-storm"-Kampagnen haben oft größere Wirkung als fachliche Argumente oder Diskurse. Wird unsere eigenverantwortliche Selbstbestimmungsfähigkeit, in der Aufklärung gegen religiöse und staatliche Wahrheits- und Wertemonopole erkämpft, dadurch geschwächt?
Technologische Entwicklung führt regelmäßig zu einer stärkeren Ungleichverteilung der Einkommen. Das war in der "Industriellen Revolution" bereits so, wo die Lage der neu entstandene Arbeiterschicht sich erst Generationen später zu bessern begann. Heute trifft dies für die Innovationen der Finanzwirtschaft (mit dem Schlaglicht Finanzkrise 2008) und der globalen Logistik (T-Shirts aus Bangladesch, Handys aus China) genauso zu wie beispielsweise für die Grüne Gentechnik (lokale Märkte werden zerstört).
Auf Basis dieser Beobachtungen sollten wir uns im Klaren sein, sowohl im historischen Kontext als auch in der aktuellen Situation, dass demokratische Systeme keine Selbstläufer sind.
Die EU, deren Nationen, deren politische Klasse, deren Lobbygruppen und deren Bürger sind gut beraten, sowohl in der Innenwirkung als auch in der Außenwirkung Demokratie und Menschenrechte als vergängliche Werte zu erkennen und für diese aktiv einzutreten, sofern sie sie denn teilen.