Ursachen, Auslöser, Wertediskussion
Analyse der Migrantenkrise
November 2015
1. Ursachen und Auslöser
Die Ursachen jeder (freiwilligen) Migration liegen üblicherweise in der egozentrischen Werteabwägung der betreffenden Person. Überwiegen die Vorteile, wie mehr Sicherheit oder besseres wirtschaftliches Auskommen, oder die Nachteile, wie Aufgabe der Heimat und des eigenen Kulturkreises?
Damit ist bereits klar, dass der Syrienkonflikt bestenfalls in ein Umfeld von Ursachen einzuordnen ist, denn Kriege und Bürgerkriege gab es stets (Palästinakonflikt, Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens, Libyen, Ruanda, Afghanistan, Tschetschenien, Jemen, um nur einige der vergangenen und gegenwärtigen zu nennen). Genauso gab es stets ein Wohlstandsgefälle, das sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert hat.
Der Auslöser liegt in der laissez-faire-Politik vieler europäischer Länder, darunter Deutschland, die bereits über Jahre in schleppenden Verfahren Migranten aller Art (auch die eindeutigen Wirtschaftsmigranten) entweder duldeten oder nach Ablehnung regelmäßig nicht abschoben. Damit bildete sich ein Pool von zehntausenden von Personen, die wussten, dass und in welchen Ländern es am besten funktioniert. Die europäische Solidarität reichte auch nicht so weit, die Probleme in den Außengrenzländern wie Griechenland oder Italien - z. B. Thema Bootsflüchtlinge - oder gar die von Nicht-EU-Ländern wie Türkei, Jordanien und Libanon, die bereits Millionen Flüchtlinge aufgenommen hatten, als die eigenen zu erkennen. Schlepper bauten Netzwerke auf, die zumindest die Wohlhabenden, die sich die Schlepperzahlung leisten konnten, mit zunehmender Routine transportierten. So konnte sich ein Wasserstand hinter einem Damm aufbauen, der gleichzeitig immer stärker geschwächt wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Dammbruch, katalysiert durch Handy und Internet (1), erfolgte.
2. Wertediskussion
Elinor Ostrom, die als erste Frau den Wirtschaftsnobelpreis erhalten hatte für ihre Arbeiten zur Theorie der Allmende und der sozialen Institutionen, unterteilt die Werteskala eines Menschen innerhalb einer Gemeinschaft (wie Familie, Dorf, Staat) in drei Summanden (s. Werte in der Institution des sozialen Dilemmas):
- 1. Physische / monetäre Bewertung
- 2. Die innere Bewertung, nach durch Normen verursachten Gefühlen wie Freude, Stolz, Scham ("Gewissen")
- 3. Die äußere Bewertung, entsprechend der kommunikativen Rückmeldung anderer Gruppenteilnehmer wie Lob und Tadel, öffentliche Zurschaustellung ("Kulturkreis")
Zur Veranschaulichung einige Beispiele aus dem alltäglichen Leben:
Zu 1. In der Schweiz halten sich die meisten Autofahrer strikter an die Temporegeln als in Deutschland, da sie wissen, dass die Strafen höher sind und regelmäßig verhängt werden --> Monetäre Bewertung.
Zu 2. Nur wenige Menschen stehlen, selbst wenn sie die unbeobachtete Gelegenheit dazu hätten, da sie es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können --> Innere Bewertung.
Zu 3. Manche Deutschen kaufen sich ein erkennbar teures Auto, um Status zu gewinnen, andere kaufen sich ein erkennbar sparsames Auto, um Status zu gewinnen - jeder in seinem selbstgewählten sozialen Umfeld --> Äußere Bewertung.
Betreffs der Migrantenkrise sind die Institutionen "Europäische Union" und "Deutschland" (und andere Länder) sowie weitere Ebenen wie "Bundesländer" oder "Gemeinden" prinzipiell zu unterscheiden.
Für alle Ebenen gilt jedoch, dass in der Werteskala der Summand (1) als Selbststeuerungsfunktion der Gemeinschaft völlig ausgefallen ist, es herrscht ein rechtsfreier Raum, Übertritte werden nicht sanktioniert.
Zu den Summanden (2) und (3), also der inneren und äußeren Bewertung, ist zu sagen, dass die allermeisten Migranten aus anderen Kulturkreisen kommen, d. h. ihre Bewertungsregeln sind verschieden von denen der jeweiligen europäischen Länder. Es ist also kein automatischer Konvergenzprozess zu erwarten. Hier ist die Diskussion über die Integrationsfähigkeit in die europäischen Wertesysteme einzuordnen (Demokratieverständnis, Menschenrechte, Gewaltmonopol des Staates, Trennung von Staat und Kirche, Gleichberechtigung, Umweltschutz usw.).
Wir haben aktuell (Stand Oktober 2015) in der EU und in Deutschland das Faustrecht der inneren und äußeren Bewertung von Menschen aus fremden Kulturkreisen, da das Ordnungsrecht des Staates durch Kontrolle und Sanktionierung - physische und monetäre Bewertung - nicht mehr existiert.
Man mag dies vergleichen mit der Situation eines weiträumigen Stromausfalls, wo möglicherweise Plünderungen stattfinden, solange die Polizei mangels Kommunikation und wegen Überflutung mit Meldungen nicht effektiv agieren kann.
Ohne Furcht vor Sanktionen halten sich die Plünderer nicht an die Regeln der Gemeinschaft.
Wollen wir hoffen, dass das Licht, ausgefallen in Deutschland aus dem humanitären Reflex der Hilfe, und ausgefallen in der EU durch mangelndes gemeinsames Interesse und zu langsame Beschlusswege, von den verantwortlichen Politikern wiedereingeschaltet wird, bevor das europäische Wertesystem dem ausgeplünderten Supermarkt gleicht.
Millionen Syrer, Afghanen, Iraker und Bewohner des Westbalkans mögen nur die Vorhut sein, wenn weitere Konflikte, Hungersnöte oder Klimawandelfolgen Migrationsdruck erzeugen.
3. Allmende-Sichtweise (s. Allmendeproblem)
Eine Allmende bezeichnet mittelhochdeutsch "Gemeindewiese", und der Begriff wird heute benutzt für Allgemeingüter, die von Einzelnen genutzt werden. Darunter fällt z. B. die Atmosphäre (Klimathema) oder das Meer (Fischfang), aber auch abstrakte Begriffe wie Friede oder gesellschaftliche Strukturen.
Die interessante Frage lautet, warum und wie schaffen es Menschen, ihre kurzfristigen egoistischen Ziele einem für alle höheren Gemeinnutzen unterzuordnen - bekannt aus der Spieltheorie als "soziales Dilemma".
Die oben bereits genannte Elinor Ostrom formulierte sinngemäß:
"Institutionen sind das Mittel, das Menschen zur Überwindung des sozialen Dilemmas evolutionär entwickelt haben und benutzen." (s. Werte in der Institution des sozialen Dilemmas)
So kann man den Staat Deutschland als Institution sehen, die die Allmende der deutschen Kultur mit all ihren Facetten (wie Recht [Grad der Rechtssicherheit], Sicherheit [Quote und Aufklärungsquote an Verbrechen], Gerechtigkeit [z.B. Quote an Schwarzarbeit], Ausprägung der Menschenrechte, Zustand der Natur usw.) bewahren soll zum Nutzen ihrer Mitglieder, sprich Einwohner.
Designprinzipien erfolgreicher Allmende-Institutionen Quelle: E. Ostrom (2) x |
Bedrohungen von Allmende-Institutionen Quelle: E. Ostrom (3) |
Die Tabelle links oben zeigt eine Liste von Erfolgskriterien (eine detailiertere Beschreibung siehe Allmenderegeln).
Die Punkte 1, 2, 4, 5 (Grenzen, Regeln, Kontrolle und Sanktionen) sind für die EU und Deutschland im wesentlichen außer Kraft.
Zu Punkt 3 (Regeländerungen) gilt für Deutschland: Sieht man den Rechtszusammenbruch als Regeländerung, zerfallen die Nutzer, d. h. Einwohner, in die zwei Lager der Befürworter und die der Gegner, die aktuell in der Mehrheit sein dürften - hier ist die Thematik der Radikalisierung einzuordnen.
Für die Europäische Union gilt, dass die Einzelstaaten ihr Heil in nationalen Maßnahmen suchen (Abschotten, Durchwinken, keine Willkommenskultur anbieten), d. h. die Institution EU ist hier schon nicht mehr funktional - gemeinsame effektive Regeländerungen haben höchstens untergeordnete Funktion.
Zu Punkt 6 (Mechanismen zur Konfliktlösung) kann für die EU das beobachtet werden, was auch in der Euro- und Griechenlandkrise bis heute festzustellen ist, dass nämlich die demokratischen Prozesse der Realität nicht mehr hinterherkommen. Dies betrifft die Thematik "Brüsseler Zentralstaat oder Subsidiarität" für das europäische Integrationsmodell.
Die einzelnen Nationen können wegen der geringeren organisatorischen Komplexität naturgemäß schneller reagieren, was Ungarn bereits gelungen ist, Deutschland aber noch nicht (Stand Oktober 2015).
Punkt 7 (Anerkennung der Selbstverwaltung) bezieht sich auf hierarchische Systeme und ist hier auf die EU und die Mitgliedsländer anwendbar. In Bezug auf die Migrantenkrise ist es nicht so, dass Brüssel den Nationen freie Hand lässt, sondern die von den nationalen Partikularinteressen (s. Punkt 3) getriebenen langsamen politischen Prozesse der EU hemmen die nationalen Entscheidungen eher, als dass sie ihnen nützen, weil stets europäische Rechtsbindungen zu beachten sind.
Fazit: Diese Bewertung entspricht einem vernichtenden Urteil zur Stabilität der betroffenen Institutionen - der EU als Dachinstitution und Deutschland (und Schweden, nach Bevölkerungsanteil) als am stärksten Betroffenen.
Die Tabelle rechts oben "Bedrohung von Allmende-Institutionen" bezieht sich im Quellenkontext auf kleinere Institutionen wie Fischfang- oder Bewässerungsgemeinschaften, wie man an den Punkten 3 und 5 erkennen kann.
Punkt 1 (rasche Veränderung) ist fast trivial und trifft voll zu - wenn die Veränderung rascher erfolgt als das Gemeinwesen reagieren kann, wird es schwierig. Dies gilt für die EU und die Nationen gleichermaßen.
Punkt 2 (Weitergabe von Werten an die nächste Generation) ist ein gesellschaftliches Dauerthema (Bildungsthema im weiteren Sinn). Was in demokratischen Gesellschaften schon für die Einheimischen regelmäßig als schwierig und verbesserungswürdig diskutiert wird, wird durch Integrationsaufgaben dritter Kulturen nicht einfacher, wie Einwanderungsländer wie Großbritannien (Commonwealth), Frankreich (ehemalige Kolonien) oder Deutschland (Gastarbeiter) aus Erfahrung wissen.
Als Hauptbedrohung laut Ostrom kann also die Geschwindigkeit des Zustroms und die Frage nach der Integrationsfähigkeit identifiziert werden.
Die Geschichte wird rasch zeigen, ob und welche Selbstschutzmechanismen Deutschland trotz seiner historischen Vergangenheitsbelastung entwickeln wird - die Bandbreite dürfte zwischen Rückgewinnung der Kontrolle durch die bürgerlichen Parteien und Rechtsradikalisierung liegen.
Etwas später wird man feststellen können, ob die Veränderungen von Deutschlands Zivilgesellschaft dem Wunsch der Bevölkerung entsprochen haben werden.
Die Geschichte wird ebenfalls zeigen, in welcher Stärke oder Schwäche die EU aus dieser Herausforderung hervorgehen wird.
Seit Jahren ist zu erkennen, dass der Brüsseler Ansatz, alle auftauchenden Probleme durch noch mehr Integration lösen zu wollen, sich immer stärker als Irrweg erweist. Gerade in Zeiten der Krise suchen die Bürger Halt in ihrem Staat und dessen Ordnungsfunktion. Ein starkes Europa kann nur ein Europa der starken Nationalstaaten sein.
Bleibt die EU in ihren Entscheidungsprozessen so komplex, dass sie den Herausforderungen der Realität nicht mehr in Echtzeit folgen kann, und führt die mangelnde Problemlösungsqualität zur weiteren Abnahme der nationalen Identifikationen mit dem Projekt Europa, wird sie an Bedeutung verlieren, und ihre Einflussnahme auf die eigenen Geschicke und die der Weltpolitik werden sinken.
Demokratie ist kein Selbstläufer, und die Hypothese, dass die Welt in Bezug auf Menschenrechte, Krieg und Frieden, fairen Umgang miteinander, Begrenzung der Weltbevölkerung und Schutz der Umweltressourcen mit demokratischen Systemen besser stünde, ist kein Garant für deren Erfolg (4).
Quellenangaben und Anmerkungen
(1) Siehe auch Arabische Welt
(2) frei nach: E. Ostrom, "Governing the Commons - The Evolution of Institutions for Collective Action" (Cambridge: Cambridge University Press, 1990); s. auch Buchtipps
(3) frei nach: E. Ostrom, "Understanding Institutional Diversity" (Princeton: Princeton University Press, 2005)
(4) Siehe auch Europa in der Dekadenzphase?