__________________________________ Das Buch: "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

______________________________________________ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

Analyse des Fortschrittsbegriffs - Geht es uns heute besser als früher?

 

3. Fortschritt - für wen?
 

Selbst wenn die technologische wie die biologische Evolution ungerichtet abliefe, und erstere sich, mit besonderem Schwerpunkt auf der Informationstechnologie, ständig beschleunigen würde, haben wir damit ein Problem? Sind wir nicht, egal aus welchen Gründen, als bisherige "Krone der Schöpfung" entstanden, und geht es uns nicht, ebenfalls egal aus welchen Gründen, heute besser als früher?

"Uns" geht es "heute" "besser" als früher - vor einer Diskussion des Themas "Fortschritt" anhand von Beispielen sollen diese Begriffe vertieft werden.

Wer ist "wir"? Es kann das Individuum gemeint sein, die Familie, Menschen einer Region, ein Volk, die Weltbevölkerung. Es kann eine Teilgruppierung sein (z. B. ethnisch, beruflich, religiös), oder eine bestimmte soziale Schicht.
 
Bezüglich des "heute", also des Begriffs der Gegenwart, ist zu unterscheiden, ob eine Zukunftsprognose mit einbezogen wird oder nicht. Wenn jemand beispielsweise gestern Kopfweh hatte und heute nicht, geht es ihm besser. Wenn er nun erfährt, dass er an einer unheilbaren Krankheit leidet, an der er bald sterben muss, geht es ihm dann "heute" immer noch besser als gestern oder nicht? Kriterium ist hierbei die Bewertung der Nachhaltigkeit eines Zustandes.

"Besser" bedarf einer Werteskala.
Die auf das Individuum bezogene Psychologie liefert hierfür ein Modell, die sogenannte Bedürfnispyramide nach Maslow (amerikanischer Psychologe, 1943):

Als wichtigstes werden die physiologischen Bedürfnisse klassifiziert ("hungrig-satt"), darüber die Sicherheit ("Krieg-Frieden"), darüber die sozialen Motive ("Einsamkeit-Beziehung"). Als nächstes folgen die sogenannten Ich-Motive (Anerkennung, Status; hier dürfte auch "Wohlstand" anzusiedeln sein, als Vergleichsmaßstab in Relation zu anderen). Die Spitze der Pyramide bildet die Selbstverwirklichung (die Freiheit und Fähigkeit, einen eigenen Standpunkt zu bilden und zu leben, statt gesellschaftlichen Zwängen zu folgen).

Die oberen drei Pyramidenstockwerke beinhalten die Gemeinschaft, die Umgebung. Strukturen der hierfür anwendbaren Bewertungsmaßstäbe lassen sich in der Allmendetheorie finden. Wesentliche Kriterien sind die Bildung der (Interessen-)Gruppe und Erarbeitung deren Ziele/Werte. Hierin finden sich ggf. nicht-egoistische Werte (Mitmenschen, Umwelt) und Nachhaltigkeitswerte.

Zum Allmendebegriff siehe auch die Seite  Allmende-Sichtweise   (im Artikel "Die Zukunft des Euro"), sowie
Buchtipp Nr. 5 zum Werk von Elinor Ostrom, "Governing the Commons", 1990.

Einige Beispiele
 

Erste Bedürfnisebene, Gruppe "Weltbevölkerung", Thema Ernährung:

Die Weltbevölkerung nahm in den vergangenen tausenden Jahren exponenziell auf heute 6,9 Mrd. Menschen zu (der Trend verflachte vor ca. 40 Jahren in eine lineare Zunahme).
15 % davon, ca. 1 Mrd. Menschen, leiden Hunger, Tendenz seit 2003 (wieder) steigend.
                                      Details dazu (Quelle: Welthungerhilfe):
Gleichzeitig sind ca. 1 Mrd. Menschen fettleibig (BMI > 30).
Diese haben eine um 8-10 Jahre geringere Lebenserwartung:
Der Trend ist exponenziell, Beispiel USA, wo heute über 30 % der Bevölkerung fettleibig ist (Quelle: World Health Organization).
Geht es "der Weltbevölkerung" heute besser?


Bevölkerungsentwicklung

 
 

Hunger auf der Welt, Graphik

Hunger auf der Welt, Info

FAZ 24.9.10 "Rund um die Welt"
 

WHO, Global Database on BMI

Erste Bedürfnisebene, Gruppe "alte Menschen", Thema geistige Gesundheit:

Die Lebenserwartung nimmt ständig zu, in Deutschland hat sie sich innerhalb von 100 Jahren von 40 auf 80 Jahre verdoppelt.
2010 waren 5  % der Bevölkerung älter als 80, 1 % älter als 90 Jahre. Im Jahr 2030 werden sich die Prozentzahlen auf 8 % und 2 % erhöht haben.
Das Gehirn ist offenbar ein Organ, dessen Alterung Bewusstseinsprozesse bis zum Ausfall einschränkt, bevor lebensnotwendige Steuerfunktionen betroffen sind. Demenz tritt z. B. in den USA bei den unter 70-jährigen mit 2 % auf, bei den 85-90-jährigen mit 20 %, bei den über 90-jährigen mit 28 % (Männer) bzw. 45 % (Frauen). In Deutschland gibt es heute 1,1 Mio. Demenzkranke, die Zahl wird bis 2030 auf 1,7 Mio. Menschen steigen.
Dieses Thema rührt an grundsätzliche Fragen, aber fragen mag erlaubt sein: Geht es uns heute besser?



Lebenserwartung Deutschland

Zweite Bedürfnisebene, regionale Gruppen, Thema Krieg und Terrorismus:

Die Azteken Mexicos nach 1521, die Inkas nach 1532, nach der spanischen Conquista, die nicht nur einen Vernichtungs- und Unterwerfungskrieg bedeutete, sondern auch das Ausgeliefertsein gegenüber den "Biowaffen" Pocken, Grippe, Tuberkulose, denen mehr Menschen zum Opfer fielen als durch Waffengewalt - sie werden sicherlich nicht gesagt haben, ihnen ginge es besser als in der Vergangenheit. Die Bevölkerung Mexikos nahm innerhalb von weniger als 100 Jahren von 10-20 auf eine Million Menschen ab.
Diesselbe Argumentation gilt beispielsweise für Mitteleuropa um 1630 (Dreißigjähriger Krieg, 4 Mio. Tote, etwa 20 % der Bevölkerung), Vietnam 1970 (3 Mio. Tote), Europa um 1942 (2. Weltkrieg, 60 Mio. Tote) usw.
Ähnlich kann man lokale Ereignisse betrachten, wie New York 2001 (Attentat auf das World Trade Center, etwa 3000 Tote).
Und wie sieht es mit "Beinahe-Ereignissen" aus - wie etwa am 27.10.1962, dem Höhepunkt der Kubakrise, als ein atomarer Dritter Weltkrieg nur um Haaresbreite verhindert wurde?
Ob im Verlauf der zivilisatorischen und technologischen Evolution die Friedenszeiten eher zu- oder abgenommen haben, soll hier als offene Frage stehen bleiben. Sicher ist jedoch, dass die Tödlichkeit der Waffentechnik ständig wuchs - ein Fortschritt?

Dritte Bedürfnisebene, regionale Gruppen, Thema Familie:

In Deutschland stieg die Zahl der Alleinlebenden von 1996 bis 2006 von 12,7 auf 14,9 Mio. Menschen, ein Anstieg um 17 % in 10 Jahren. Ihr Anteil an der Bevölkerung betrug 18 %.
1991 wurden jährlich 7 von 1000 Ehen geschieden, 2008 bereits 11 von 1000, knapp 60 % mehr.
1975 gab es 0,6 Mio. alleinerziehende Eltern, 20 Jahre später doppelt so viele, nochmals 7 Jahre später (2003) weitere 50 % mehr. Davon waren 2,2 Mio. minderjährige Kinder betroffen, 15 % aller Kinder in Deutschland. 2009 hatte sich deren Zahl weiter auf 2,4 Mio. erhöht.
Durch die räumliche Konzentration vor allem technisch orientierter Arbeitsplätze (Industrie) müssen junge Menschen beim Start ihres Berufslebens häufig eine weite Trennung von ihrer näheren Verwandtschaft in Kauf nehmen.
In China findet im Rahmen der Industrialisierung eine Landflucht statt, d. h. ehemals in der Landwirtschaft Tätige suchen in den Metropolen und Industriegebieten des Ostens Arbeit zu finden. Da ihnen eine dauerhafte Ansiedlung in den Städten untersagt ist, pendeln sie als Wanderarbeiter saisonal und arbeitsplatzbedingt.
Bezogen auf eine geschätzte Landbevölkerung des Hinterlandes von 900 Mio. Menschen, gab es 1980 2 Mio. Wanderarbeiter, 2010 bereits 150 Mio., also ca. 15 % der ländlichen Bevölkerung.
Jeder einzelne Fall bedeutet eine Familientrennung jeweils über Monate.
An diesen Beispielen eines Industrie- und eines Schwellenlandes ist zu erkennen, dass Familienstrukturen geschwächt werden - ein Fortschritt?


Alleinlebende Deutschland

Alleinerziehende /Ehescheidungen
(statistisches Bundesamt)

Alleinerziehende in Deutschland

Vierte Bedürfnisebene, soziale Schichten, Thema materieller Wohlstand:

Leistung und Anerkennung wird, zumindest in den kapitalistisch orientierten Gesellschaften, stark assoziiert mit Einkommen und Reichtum, d. h. mit materiellen Gütern.
Das Welteinkommen (Bruttoinlandsprodukt, BIP) steigt exponenziell. Jedoch öffnet sich die Schere zwischen reichen und armen Ländern ständig. Zusätzlich kann in reicheren Ländern die Ungleichverteilung der Einkommen höher sein als in weniger reichen. So beträgt der Gini-Koeffizient (0 % bedeutet: Alle verdienen dasselbe; 100 % bedeutet: Einer verdient das gesamte Ländereinkommen) für USA 46,6 % und für Deutschland 28,3 %, bei Pro-Kopf-Einkommen von 46 bzw. 34 Tausend Dollar (2009).
Weniger abstrakt ausgedrückt, die Armutsgrenze lag 2009 in den USA bei 15,8 % oder 47 Mio. Menschen, und diese nahm über die letzten 40 Jahre zu.
51 Mio. US-Amerikaner (16,7 %) waren 2009 ohne Krankenversicherung.
Die Aussage lautet, dass sich die Wohlstandsschere international und in einigen Fällen national öffnet - ein Fortschritt?



BIP Welt Graphik

BIP Welt interaktiver Link



Armutsgrenze USA

 

Vierte Bedürfnisebene, Stadtbewohner, Thema Lebensqualität:

Getrieben durch die Bevölkerungszunahme, die Rationalisierung der Landwirtschaft, die Entwicklung der Grundbesitzverhältnisse und die Verlagerung des Produktionsschwerpunktes von der Landwirtschaft auf Industrie und Dienstleistungen - alles direkt oder indirekt Folgen der technologischen Evolution - findet seit dem Beginn der industriellen Revolution bzw. der regionalen Industrialisierung eine Landflucht statt. Die folgende Graphik zeigt den Trend: Innerhalb von 80 Jahren verdoppelt sich der Anteil der Städter (ab 2010 Prognose).


Bevölkerung interaktiver Link
(UN Population Division)

Dem im Durchschnitt (aber nicht für alle: s.o. "Ungleichverteilung der Einkommen") steigenden Wohlstand - gemessen an Konsumgütern, wie Kleidung, Mobilität, Wohnung usw. - stehen entgegen der Verlust an natürlicher Umgebung, Lärm, Luftverschmutzung, lange Arbeitswege.

Die Bilder sind im Grunde jedem bekannt.

 



 

         Nairobi (Kenia)
         Bevölkerung 3 Mio.
         Entwicklungsland
         Verstädterung 1950/2010:
         von 6 auf 22 %

         Sao Paulo (Brasilien)
         Bevölkerung 20 Mio.
         Schwellenland
         Verstädterung 1950/2010:
         von 36 auf 87 %

Kathmandu (Nepal)
Bevölkerung 1 Mio.
Entwicklungsland
Verstädterung 1950/2010:
von 3 auf 18 %





Shanghai (China)
Bevölkerung 19 Mio.
Schwellenland
Verstädterung 1950/2010:
von 13 auf 45 %

 
 
 
     
 
 
     
 
   

Los Angeles (USA)
Bevölkerung 18 Mio.
Industrieland
Verstädterung 1950/2010:
von 64 auf 82%

New York (USA)
Bevölkerung 19 Mio.



Wer, zum Vergleich, einige Eckdaten zur städtischen Situation Roms während der Spätantike (3-4. Jht. n. Chr.) finden möchte, findet sie  hier.

 

Erste bis vierte Bedürfnisebene, Thema Nachhaltigkeit:
Die privilegierten Passagiere des größten und modernsten Schiffes der Welt, ausgestattet mit den luxuriösesten Annehmlichkeiten, werden in den frühen Morgenstunden des 15.4.1912 dennoch nicht das Gefühl gehabt haben, an einem nachhaltigen Fortschritt teilzuhaben, während die Titanic bereits Schlagseite bekam.
Einige der oben gewählten Beispiele haben das Thema "Nachhaltigkeit" zum Hintergrund, d. h. eine Projektion in die Zukunft.
Ein Kernthema ist dabei das Bevölkerungswachstum, mit dem damit einhergehenden Ressourcenverbrauch.
Wer sich dazu genauer informieren möchte, findet Zahlen, Detailanalysen und plakativ formulierte Modelle im Vorlesungsskript "Nationale und globale Probleme verlängerter Lebenserwartung" des Politikwissenschaftlers  C. Kernig, 2005

Die Auswahl der obigen Beispiele soll deutlich machen, dass die Beurteilung des "Fortschritts" genauso vom zeitlichen und räumlichen Rahmen wie von den Bewertungskriterien abhängt.
Die kurzfristige und lokale Sicht eines Wohlstandsbürgers käme naheliegenderweise zu anderen Resultaten.


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