Analyse des Fortschrittsbegriffs - Geht es uns heute besser als früher?
3. Fortschritt - für wen?
Selbst wenn die technologische wie die biologische Evolution ungerichtet abliefe, und erstere sich, mit besonderem Schwerpunkt auf der Informationstechnologie, ständig beschleunigen würde, haben wir damit ein Problem? Sind wir nicht, egal aus welchen Gründen, als bisherige "Krone der Schöpfung" entstanden, und geht es uns nicht, ebenfalls egal aus welchen Gründen, heute besser als früher?
"Uns" geht es "heute" "besser" als früher - vor einer Diskussion des Themas "Fortschritt" anhand von Beispielen sollen diese Begriffe vertieft werden.
Wer ist "wir"? Es kann das Individuum gemeint sein, die Familie, Menschen einer Region, ein Volk, die Weltbevölkerung. Es kann eine Teilgruppierung sein (z. B. ethnisch, beruflich, religiös), oder eine bestimmte soziale Schicht.
Bezüglich des "heute", also des Begriffs der Gegenwart, ist zu unterscheiden, ob eine Zukunftsprognose mit einbezogen wird oder nicht. Wenn jemand beispielsweise gestern Kopfweh hatte und heute nicht, geht es ihm besser. Wenn er nun erfährt, dass er an einer unheilbaren Krankheit leidet, an der er bald sterben muss, geht es ihm dann "heute" immer noch besser als gestern oder nicht? Kriterium ist hierbei die Bewertung der Nachhaltigkeit eines Zustandes.
"Besser" bedarf einer Werteskala. Als wichtigstes werden die physiologischen Bedürfnisse klassifiziert ("hungrig-satt"), darüber die Sicherheit ("Krieg-Frieden"), darüber die sozialen Motive ("Einsamkeit-Beziehung"). Als nächstes folgen die sogenannten Ich-Motive (Anerkennung, Status; hier dürfte auch "Wohlstand" anzusiedeln sein, als Vergleichsmaßstab in Relation zu anderen). Die Spitze der Pyramide bildet die Selbstverwirklichung (die Freiheit und Fähigkeit, einen eigenen Standpunkt zu bilden und zu leben, statt gesellschaftlichen Zwängen zu folgen). |
Die oberen drei Pyramidenstockwerke beinhalten die Gemeinschaft, die Umgebung. Strukturen der hierfür anwendbaren Bewertungsmaßstäbe lassen sich in der Allmendetheorie finden. Wesentliche Kriterien sind die Bildung der (Interessen-)Gruppe und Erarbeitung deren Ziele/Werte. Hierin finden sich ggf. nicht-egoistische Werte (Mitmenschen, Umwelt) und Nachhaltigkeitswerte.
Zum Allmendebegriff siehe auch die Seite Allmende-Sichtweise (im Artikel "Die Zukunft des Euro"), sowie
Buchtipp Nr. 5 zum Werk von Elinor Ostrom, "Governing the Commons", 1990.
Einige Beispiele
Erste Bedürfnisebene, Gruppe "Weltbevölkerung", Thema Ernährung: Die Weltbevölkerung nahm in den vergangenen tausenden Jahren exponenziell auf heute 6,9 Mrd. Menschen zu (der Trend verflachte vor ca. 40 Jahren in eine lineare Zunahme). |
Erste Bedürfnisebene, Gruppe "alte Menschen", Thema geistige Gesundheit: Die Lebenserwartung nimmt ständig zu, in Deutschland hat sie sich innerhalb von 100 Jahren von 40 auf 80 Jahre verdoppelt. |
Zweite Bedürfnisebene, regionale Gruppen, Thema Krieg und Terrorismus:
Die Azteken Mexicos nach 1521, die Inkas nach 1532, nach der spanischen Conquista, die nicht nur einen Vernichtungs- und Unterwerfungskrieg bedeutete, sondern auch das Ausgeliefertsein gegenüber den "Biowaffen" Pocken, Grippe, Tuberkulose, denen mehr Menschen zum Opfer fielen als durch Waffengewalt - sie werden sicherlich nicht gesagt haben, ihnen ginge es besser als in der Vergangenheit. Die Bevölkerung Mexikos nahm innerhalb von weniger als 100 Jahren von 10-20 auf eine Million Menschen ab.
Diesselbe Argumentation gilt beispielsweise für Mitteleuropa um 1630 (Dreißigjähriger Krieg, 4 Mio. Tote, etwa 20 % der Bevölkerung), Vietnam 1970 (3 Mio. Tote), Europa um 1942 (2. Weltkrieg, 60 Mio. Tote) usw.
Ähnlich kann man lokale Ereignisse betrachten, wie New York 2001 (Attentat auf das World Trade Center, etwa 3000 Tote).
Und wie sieht es mit "Beinahe-Ereignissen" aus - wie etwa am 27.10.1962, dem Höhepunkt der Kubakrise, als ein atomarer Dritter Weltkrieg nur um Haaresbreite verhindert wurde?
Ob im Verlauf der zivilisatorischen und technologischen Evolution die Friedenszeiten eher zu- oder abgenommen haben, soll hier als offene Frage stehen bleiben. Sicher ist jedoch, dass die Tödlichkeit der Waffentechnik ständig wuchs - ein Fortschritt?
Dritte Bedürfnisebene, regionale Gruppen, Thema Familie: In Deutschland stieg die Zahl der Alleinlebenden von 1996 bis 2006 von 12,7 auf 14,9 Mio. Menschen, ein Anstieg um 17 % in 10 Jahren. Ihr Anteil an der Bevölkerung betrug 18 %. |
Vierte Bedürfnisebene, soziale Schichten, Thema materieller Wohlstand:
Leistung und Anerkennung wird, zumindest in den kapitalistisch orientierten Gesellschaften, stark assoziiert mit Einkommen und Reichtum, d. h. mit materiellen Gütern. |
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Vierte Bedürfnisebene, Stadtbewohner, Thema Lebensqualität: Getrieben durch die Bevölkerungszunahme, die Rationalisierung der Landwirtschaft, die Entwicklung der Grundbesitzverhältnisse und die Verlagerung des Produktionsschwerpunktes von der Landwirtschaft auf Industrie und Dienstleistungen - alles direkt oder indirekt Folgen der technologischen Evolution - findet seit dem Beginn der industriellen Revolution bzw. der regionalen Industrialisierung eine Landflucht statt. Die folgende Graphik zeigt den Trend: Innerhalb von 80 Jahren verdoppelt sich der Anteil der Städter (ab 2010 Prognose). |
Dem im Durchschnitt (aber nicht für alle: s.o. "Ungleichverteilung der Einkommen") steigenden Wohlstand - gemessen an Konsumgütern, wie Kleidung, Mobilität, Wohnung usw. - stehen entgegen der Verlust an natürlicher Umgebung, Lärm, Luftverschmutzung, lange Arbeitswege.
Die Bilder sind im Grunde jedem bekannt.
Nairobi (Kenia) |
Sao Paulo (Brasilien) |
Kathmandu (Nepal) |
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Los Angeles (USA) |
New York (USA) |
Wer, zum Vergleich, einige Eckdaten zur städtischen Situation Roms während der Spätantike (3-4. Jht. n. Chr.) finden möchte, findet sie hier.
Erste bis vierte Bedürfnisebene, Thema Nachhaltigkeit:
Die privilegierten Passagiere des größten und modernsten Schiffes der Welt, ausgestattet mit den luxuriösesten Annehmlichkeiten, werden in den frühen Morgenstunden des 15.4.1912 dennoch nicht das Gefühl gehabt haben, an einem nachhaltigen Fortschritt teilzuhaben, während die Titanic bereits Schlagseite bekam.
Einige der oben gewählten Beispiele haben das Thema "Nachhaltigkeit" zum Hintergrund, d. h. eine Projektion in die Zukunft.
Ein Kernthema ist dabei das Bevölkerungswachstum, mit dem damit einhergehenden Ressourcenverbrauch.
Wer sich dazu genauer informieren möchte, findet Zahlen, Detailanalysen und plakativ formulierte Modelle im Vorlesungsskript "Nationale und globale Probleme verlängerter Lebenserwartung" des Politikwissenschaftlers C. Kernig, 2005.
Die Auswahl der obigen Beispiele soll deutlich machen, dass die Beurteilung des "Fortschritts" genauso vom zeitlichen und räumlichen Rahmen wie von den Bewertungskriterien abhängt.
Die kurzfristige und lokale Sicht eines Wohlstandsbürgers käme naheliegenderweise zu anderen Resultaten.