Welche Freiheitsgrade bietet die Zivilisation 2.0 ? Eine Diskussion der Entscheidungsfreiheit - Chancen des Handelns
5. Aktionsmöglichkeiten
Nach den bisher vorgestellten Arbeitshypothesen unterliegt die technologische Entwicklung, mit der Informationstechnologie an der Spitze, genauso den Gesetzmäßigkeiten der Evolution wie die Entwicklung des Lebens, d. h. es gibt keine gerichteten Trends in welche Richtung auch immer.
Die hier betrachteten Systemteilnehmer (Mensch - Güter - Informationen) beeinflussen sich gegenseitig innerhalb der Evolutionsschemata Symbiose - Parasitismus - Jäger/Beute.
Die Entwicklung beschleunigt sich, getrieben durch die Informationstechnologie, exponenziell.
Die Annahme der "automatisch" positiven Entwicklung wurde hinterfragt und Risiken aufgezeigt.
Wie kommt hierbei die Entscheidungsfreiheit des Menschen ins Spiel?
Betrachten wir noch einmal den Kreislauf der Evolution: |
Quelle: Olsberg, "Schöpfung außer Kontrolle", 2010 |
- Die Mutation kann nach allen Erfahrungen nicht durch Verhindern beeinflusst werden. Alles, was erfunden werden kann, wird auch erfunden. Nach der Entdeckung der Kernspaltung war die Erfindung der Atombombe nicht verhinderbar, nach dem entsprechenden Stand der Gentechnik war die Entwicklung des Klonens nicht verhinderbar, unbeschadet jeder gesellschaftlichen Meinung dazu.
- Die Selektion in der Waren- und Informationswelt unterliegt der Entscheidung des Menschen (des Kunden, des Marktes, wie bei Konsumgütern üblicherweise formuliert). Jeder von uns entscheidet selbst, was er kauft, wie er wohnt und lebt, d. h. was er konsumiert. Die entscheidende Frage lautet, wieweit unterliegen diese persönlichen Entscheidungen triebhaften Faktoren (Sexualtrieb, Ernährungstrieb, Statustrieb), oder einer Manipulation oder Sucht (wie auf der Seite "Risiken" diskutiert), oder eben dem freien Willen?
- Die Reproduktion von Konsumgütern und von Informationsinhalten folgt dem Markt, d. h. der Selektion. Ein Automodell, dessen Verkaufszahlen steigen, wird in der erforderlichen Menge produziert werden, ein Internetdienst oder Computerspiel, das zunehmend genutzt wird, wird entsprechend ausgeweitet oder verkauft werden. Eine Beeinflussung durch den Menschen ist hier nur durch Gesetzgebung möglich (Zulassung, Förderung oder Verbot). Diese wiederum bewegt sich im Reich der Informationsinhalte, evolutionstheoretisch ausgedrückt, der Meme. Die Informationseinheit - das Mem - etwa Kinderpornographie im Netz verbieten zu wollen, oder den Einsatz kohlendioxidneutraler Energieformen fördern zu wollen, wird (in demokratischen Gesellschaften) selektiert durch die öffentliche Meinung, und reproduziert durch die politischen Instanzen per legislativer Umsetzung.
Woran orientiert sich der verfügbare Anteil an freier Entscheidung?
Hierzu kann noch einmal die Bedürfnispyramide herangezogen werden:
Die Reihenfolge steigt von körperlichen Bedürfnissen über Individualtriebe, Sozialtriebe hin zu intellektuellen Inhalten. |
Was bedeutet "freier Wille zur Selbstverwirklichung" im Kontext der Evolutionstheorie? So wie die biologische Erfindung des Auges die Fähigkeit der optischen Wahrnehmung geliefert hat, oder die Vogelschwinge die Fähigkeit zum Fliegen, so lieferte die Weiterentwicklung des Großhirns neben der Fähigkeit, komplexe Werkzeuge herzustellen (dafür war auch die Greifhand eine Voraussetzung) noch etwas weiteres gänzlich Neues: Die Fähigkeit, die Zukunft als Begrifflichkeit zu erfassen.
Man muss das Modell des ungerichteten Trends nicht verlassen, um zu formulieren, dass der biologisch implementierte Zukunftsbegriff heute die obere Komplexitätsgrenze des "Pfades des Betrunkenen" mitbildet.
Damit ist es statistisch wahrscheinlich und wird sich deshalb realisieren, dass die Menschen stets
- die Zukunft beurteilen
- Pläne machen
- Zukunftsängste und Zukunftsvisionen haben
- zeitablaufbezogene Standpunkte beziehen
- Ziele definieren und diesbezüglich nach Selbstverwirklichung streben.
Welche Ziele sich der einzelne Mensch setzt, gibt die Evolutionsstatistik allerdings nicht vor. Ob er wohlhabend oder berühmt werden, eine glückliche Familie haben, soziale Ungerechtigkeiten verringern, das Klima bewahren oder durch Spekulation reich werden möchte, entscheidet er selbst.
Ein fiktives, jedoch plakatives Beispiel liefert der Science-Fiction-Film "Die Matrix" von 1999. Der Plot besteht darin, dass die Menschen von einer intelligenten Maschinenwelt versklavt sind, die ihnen eine virtuelle Realität ("unsere" Realität) vorspiegelt, um sie unter Kontrolle zu halten. Einige wenige freie Menschen versuchen den Aufstand. Der Held wird gefragt, ob er "die rote oder die blaue Pille" wähle, d. h. zwischen angenehmer virtueller Scheinwelt und der freien und harten Welt des Untergrunddaseins. Er entscheidet sich für die Gedankenfreiheit, wohingegen der "Verräter" des Filmplots aktiv die Scheinwelt wählt.
Um Beispiele für singuläre, Gruppen- (Allmende-) und nachhaltige Zielsetzungen zu finden, kann man allerdings auch in die Kulturgeschichte zurückgehen. Jede Staatsgründung, jede Religionsgründung und ihre Weiterentwicklungen beinhalten Komponenten kollektiver Zielsetzungsprozesse.
Bei knapp sieben Mrd. Menschen auf der Erde, wie groß ist die Chance für den Einzelnen, Allmende- und nachhaltige Ziele und deren Erreichung zu beeinflussen?
Die Chaostheorie liefert heute ein prinzipielles Verständnis dafür, dass kleinste Veränderungen an einer Stelle große Effekte an anderer Stelle auszulösen vermögen. "Der Flügelschlag eines Schmetterlings in China kann in der Karibik einen Wirbelsturm auslösen". Aller Erfahrung nach gilt dies nicht für jeden Schmetterling, aber letztlich beeinflusst das globale Kollektiv aller Luftmoleküle die Bildung und Entwicklung jedes Wirbelsturms. Analoges mag für die Zusammenwirkung von Informationseinheiten gelten.
Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King hielt 1963 eine berühmte Rede vor 250 000 Zuhörern, die mit dazu beitrug, dass in USA die Rassentrennung 1968 gesetzlich aufgehoben wurde.
Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass man nicht Martin Luther King heißen muss, um auch zielführend sagen zu können: "I have a dream."
Die exponenziell zunehmende Mächtigkeit der Informationstechnologie mag zur Lösung der durch sie mitverursachten Probleme selbst die beste Hilfe liefern, nämlich zur zuverlässigeren Beurteilung der Zukunft:
- Komplexe Prognosen werden sicherer oder erst möglich, wie z. B. für das Klima, die Überbevölkerung, die Finanzsysteme - die Nachhaltigkeit wird planbarer werden.
- Von Einzelnen formulierte Ziele, Probleme oder Aufgaben können schneller und globaler transportiert werden, was die öffentliche Meinungsbildung, den wichtigen Selektor der Evolution, schärfen und beschleunigen wird.
- Insbesondere auch Gruppenaufgaben (Allmendethemen) können durch transparentere Kommunikations- und Bewertungsprozesse rascher bearbeitet werden.
- Für die Gestaltung der Zukunft als notwendige erachtete Technologien können mit Hilfe der sich steigernden IT-Leistung rascher entwickelt und umgesetzt werden.
Es liegt in der Hand der freien Willensentscheidung, die oben genannten Potenziale zu nutzen, die Risiken in Chancen zu wandeln. Der freie Wille wird entscheiden, ob das Boot durch die Stromschnellen der zunehmenden Strömung unvorbereitet in den Wasserfall stürzt, vergeblich das sichere Ufer zu gewinnen sucht,, rechtzeitig einen genügend starken Rückwärtsgang einlegt oder ob der Wasserfall durch Technologiewandel unschädlich gemacht werden kann. |
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Die ungerichtete Evolution bietet das Werkzeug des Zukunftsbegriffs, und damit der Standpunktbildung, nur an. Ob und wie es, im konkurrierenden Umfeld der Symbiosesysteme (Triebe, Unterbewusstsein, Manipulationen, Sucht) eingesetzt wird, obliegt dem Einzelnen und der ihn prägenden oder beeinflussenden gesellschaftlichen Umgebung. |
Reiher, Iguacu-Wasserfälle, Brasilien 2000 |
Oktober 2010