Was hatte der deutsche Papst den deutschen Politikern im Jahr 2011 zu sagen?
Papst Benedikt XVI im Bundestag
Im September 2011 hielt der deutsche Benedikt XVI als erster Papst vor dem Deutschen Bundestag eine Rede.
Was hatte er den Abgeordneten und Berufspolitikern dieses Landes zu sagen?
Vor dem gesetzten Szenario der jüngeren Geschichte Deutschlands, der Frage der Menschenrechte, der Bedrohung der Schöpfung, der Werteunsicherheit schöpfte er aus der Geschichte der Kirche und Europas.
Quelle: FAZ vom 22.9.2011 |
Im folgenden werden einige Aspekte seiner Ansprache herausgearbeitet:
Kommentare des Autors in violett
Lassen Sie mich meine Überlegungen über die Grundlagen des Rechts mit einer kleinen Geschichte aus der Heiligen Schrift beginnen. Im ersten Buch der Könige wird erzählt, dass Gott dem jungen König Salomon bei seiner Thronbesteigung eine Bitte freistellte. Was wird sich der junge Herrscher in diesem wichtigen Augenblick erbitten? Erfolg - Reichtum - langes Leben - Vernichtung der Feinde? Nicht um diese Dinge bittet er. Er bittet: "Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Vok zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht".
Der Rechtsbegriff als stete Suchaufgabe.
Sein [des Politikers] letzter Maßstab und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein. Die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Frieden schaffen. Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, der ihm überhaupt die Möglichkeit politischer Gestaltung eröffnet. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet.
Politik als Mittel zu einem wertehaltigen Ziel und nicht als Selbstzweck.
In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe [dem Recht zu dienen] besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? ... Die salomonische Bitte bleibt die entscheidende Frage, vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen.
Das Problem ist dringend geworden, dringender als in der Vergangenheit.
(Aber) dass in den Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig: Jeder Verantwortliche muss sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner Orientierung suchen.
Mehrheiten legitimieren Entscheidungen nicht hinreichend. Eine Warnung vor der Manipulierbarkeit von Meinungen, sowie der schlichte Hinweis, dass Mehrheiten kein (Menschen-)Recht schaffen.
Wie erkennt man, was Recht ist? In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden. ... [Das Christentum] hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen - ... Die christlichen Theologen haben sich damit einer philosophischen und juristischen Bewegung angeschlossen, die sich seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. gebildet hatte. ... [Es kam] zu einer Begegnung zwischen dem von stoischen Philosophen entwickelten sozialen Naturrecht und verantwortlichen Lehrern des römischen Rechts. In dieser Berührung ist die abendländische Rechtskultur geboren worden, die für die Rechtskultur der Menschheit von entscheidender Bedeutung war und ist.
Der oberste Vertreter der katholischen Kirche öffnete, mit geflissentlicher Unterschlagung Vernunft- und "Ketzer"-feindlicher Epochen der Kirchengeschichte, die Argumentationskette hin zu einem Naturrecht, das auch außerhalb dogmatischer Glaubensinhalte zu suchen sei.
Der Grund dafür [für eine dramatische Veränderung der Situation] ist das inzwischen fast allgemein angenommene positivistische Verständnis von Natur und Vernunft. ... Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so wie die Naturwissenschaft sie erklärt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten hervorrufen. ... Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt - und das ist in unserem öffentlichen Bewusstsein weithin der Fall -, da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede ist.
Das "gesetzte Recht" als Falle der Beliebigkeit.
Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja, sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kutur in den Status einer Subkultur verwiesen, und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden.
Naturrechtswerte als Kulturgut und unabdingbare und bereichernde Komponente des Menschseins.
Jungen Menschen war [in den 70er Jahren] bewusst geworden, dass irgendetwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt. Dass Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern dass die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen.
Die Parallele zwischen Umweltbewußtsein und Verantwortung für die Schöpfung wird gezogen.
Die Bedeutung der Ökologie ist inzwischen unbestritten. Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten. Ich möchte aber nachdrücklich einen Punkt noch ansprechen, der nach wie vor weitgehend ausgeklammert wird: Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.
Der Mensch soll sich - unüberheblich und realistisch - als Teil der Natur sehen, und schöpft aus genau dieser Erkenntnis seine Freiheit.
An dieser Stelle müsste uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe kommen. ... Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom - aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.
Historisch begründeter Appell an die Vorreiterrolle Europas in Hinblick auf Recht, Würde und Verantwortung der Menschen.
Über weite Teile der Ansprache argumentierte der Papst, ohne transzendente Glaubensinhalte heranzuziehen; erst hier, gegen Ende, schließt sich der Bogen wieder zur Salomonischen Bitte: Der Glaube an Gott als Suchalgorithmus zur Verantwortung.
Der vollständige Text der Rede