_ "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

__ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

Sprengt der Euro Europa?

 

18. Eurodrama, Zwischenspiel - Europa am Scheideweg:


November 2012:
Das rasche Durchwinken von Maßnahmen, "koste es was es wolle", hat an Tempo verloren - ein Zeichen des kollektiven Nachdenkens?

Die Fakten

1. Die Finanzierungslücke im zweiten Hilfspaket für Griechenland

 
   Quelle: FAZ vom 24.11.12

Nach wochenlangem Warten auf den Troikabericht (Dreiergremium aus IWF [Internationaler Währungsfonds], EZB [Europäischer Zentralbank] und Europäischer Kommission), der die Einhaltung und die Fortschritte der griechischen Reformzusagen beurteilen sollte, wurde - wegen zu geringer Wirkung der griechischen Maßnahmen - ein Zwischenfinanzierungsbedarf von zusätzlichen 14 Mrd. € angegeben. Der Europarat hatte, wegen mangelnder demokratischer Legitimation, eine offensichtliche Finanzierung aus Steuergeldern abgelehnt (Kommentar: Unter Führung von u.a. Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble, die, im Vorfeld der Bundestagswahl 2013, auf ihre Wähler Rücksicht nehmen wollten), und auch der IWF war zu einer weiteren Finanzierung nicht bereit.
"Kritik an Griechenland-Hilfsangebot der EZB" (FAZ vom 24.11.12) 
"Der Plan, die Finanzierungslücke im zweiten Hilfspaket für Griechenland vor allem mit Hilfe der EZB zu schließen, stößt auf Widerspruch. Deutsche Ökonomen und Politiker äußern sich kritisch..."
" 'Die EZB holt 9 Milliarden Euro T-Bills [kurzlaufende Anleihen] aus der Notenpresse wie der Zauberer das Kaninchen aus dem Hut', sagte der FDP-Politiker Schäffler."
"Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank...: Diese 'Methode der indirekten Kreditgewährung durch die EZB' sei  'so nahe an einer monetären Finanzierung von staatlichen Defiziten, wie dies nur möglich ist.' Da die EZB aber erklärt habe, alles zu tun, um den Euro zu retten, gerate sie unter politischen Zugzwang."

2. EU-Haushaltsgipfel für Rahmenplan 2014-2020 gescheitert
Die Kommission hatte 2011 vorgeschlagen, die sogenannten Verpflichtungen (Budgetobergrenze) für 2014-2020 von knapp 1000 Mrd. € auf 1047 Mrd. € zu erhöhen. Der erste Kompromissvorschlag von Ratspräsident Van Rompuy hatte bei 973 Mrd. € gelegen. Großbritannien, Deutschland, Schweden und Niederlande hatten tiefere Einschnitte gefordert. Der letzte Entwurf hatte Kürzungen für Forschung und Energienetz- / Verkehrsprojekte (minus 13 Mrd. €) vorgesehen, jedoch Aufstockungen für die Landwirtschaft (plus 10 Mrd. €) und die Strukturfonds (plus 8 Mrd. €). Für die Verwaltungsausgaben war keinerlei Kürzung vorgesehen, was insbesondere die Briten gefordert hatten.
"Raumschiff Brüssel" (FAZ vom 26.11.12)
"Das größte politische Problem der EU hat sich auf einem Nebenschauplatz ihres gescheiterten Haushaltsgipfels offenbart: Die Brüsseler Institutionen, allen voran die Kommission, waren nicht bereit, bei ihren eigenen Kosten [sechs Prozent des Etats] auch nur einen einzigen Euro einzusparen."
"In diesen schweren Zeiten fordert die Brüsseler Führung allen Ernstes für sich einen größeren Verwaltungshaushalt. Dieselbe Beamtenschaft, die auf dem Höhepunkt der Finanzkrise vor Gericht gezogen ist, um höhere Gehälter zu erstreiten, argumentiert, dass die EU in den vergangenen Jahren mehr Aufgaben erhalten habe und deshalb mehr Geld brauche."
"In einer Hinsicht hat Cameron [britischer Premierminister, der eine europaskeptische Kulisse daheim zu vertreten hat] aber leider recht: Brüssel lebe in einem 'Paralleluniversum'. In der Tat haben vor allem Kommission und Parlament wieder einmal vorgeführt, dass ihre Wahrnehmung vor allem vom Salondiskurs in der EU-Hauptstadt geprägt ist und nicht vom Kontakt mit den 500 Millionen Bürgern, für deren Wohlergehen sie sich vorgeblich einsetzen."
"Dass sich... gerade das Parlament in entscheidenden Momenten als Hilfstruppe des Apparats versteht und nicht als Bürgerkammer, beschädigt die Glaubwürdigkeit des ohnehin undurchsichtigen politischen Systems der Union. Diese Entwicklung sollte allen Politikern zu denken geben, die in den kommenden Monaten darüber zu entscheiden haben, ob und wie die Wirtschafts- und Währungsunion vertieft wird."
"Das Brüsseler Raumschiff braucht dringend eine Erdung."

3. Erstmalige Formierung einer deutschen Partei gegen die "Eurorettungspolitik"
Die Freien Wähler gehen in die Bundestagswahl 2013 mit der Aussage, geordnete Staatsinsolvenzen in Verbindung mit Euro-Austritt seien zielführend für die politische Zukunft Europas. 
"Der Euro sprengt Europa statt es zusammenzuführen" (FAZ vom 24.11.12)
Stephan Werhahn, Enkel Konrad Adenauers, nach langjähriger CDU-Mitgliedschaft ausgetreten wegen deren Euro-Politik, nun Spitzenkandidat der Freien Wähler, im Interview:
"Wir sind keine Euro-Skeptiker, sondern wir sind Eurorealisten."
"Im Prinzip sollte man die Eigenverantwortlichkeit der Eurostaaten wieder herstellen, statt sie an den Tropf zentraler Rettungsschirme zu hängen. Die Freien Wähler sehen die sogenannte Euro-Rettung um jeden Preis sehr kritisch."
"Die EU-Kommissare und Durchgriffseuropäer versuchen mit Druck aus den südeuropäischen Ländern etwas zu machen, was sie nicht sind. Griechenland schafft es nicht in der Währungsunion. Es ist zur Zeit nicht wettbewerbsfähig. Nun entsteht Unfriede in Europa - sowohl im Norden, wo die Bürger nicht in ein Fass ohne Boden zahlen wollen, als auch im Süden Europas, wo die Bürger unter dem Spardruck leiden und sagen, in Wirklichkeit werden doch nur die reichen Steuerhinterzieher und die Kapitalanleger gerettet, die Staatsanleihen gekauft haben."
"Viele Finanzfachleute warnen, dass bei einem Stopp der Rettungsfinanzierung große Turbulenzen ausbrechen würden." - "Das halte ich für übertrieben und puren Bankenlobbyismus. Natürlich würden dann viele private sowie öffentliche Kapitalanleger Verluste hinnehmen müssen. Es gibt leider noch kein geregeltes Verfahren für eine Staatsinsolvenz, das ist ein Problem."
"Was wäre Ihre Alternative [statt Griechenland und evtl. weitere Länder mit aller Macht im Euro zu halten]?" - Es wäre besser, die EU würde eine geordnete Insolvenz dieser Staaten durchführen. Dann könnte die EU den notleidenden Staaten mit einer Art Marshallplan einen Neuanfang finanzieren, ihnen Hilfestellung geben, die Verwaltung zu modernisieren und zu verschlanken. Die Abwertung ihrer Währung würde ihnen helfen, die Exporte zu steigern und die Importe zurückzuführen. Wir sagen nicht, dass diese Mitgliedstaaten für immer aus dem Euro raus sollen, sie könnten später auch wieder zurückkommen. Aber wenn es dauerhaft nicht geht, sie wieder wettbewerbsfähig zu machen, dann sind diese Länder nicht geeignet für die Währungsunion. Der Euro sprengt dann Europa, statt es zusammenzuführen."


Pressekommentar zur Lage

"Europa am Scheideweg" (FAZ vom 24.11.12)
(Hervorhebungen durch den Autor)
"Vor 20 Jahren hat die EU das Erfolgsprojekt Binnenmarkt abgeschlossen. Dann begann der Weg in die Währungsunion. Heute streitet Europa verbissen über Schulden, das EU-Budget, Transfers und Kontrollen".
"Wie viel politische Koordinierung Europa braucht, ist seit Beginn der europäischen Integration umstritten. Das liberale Modell, das etwa der legendäre Wirtschaftsminister Ludwig Erhard vertrat, betonte die Integration über den Markt, ein ungeplantes Zusammenwachsen von unten. Freier Austausch von Waren und Dienstleistungen, Kapitalverkehrsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit - die sogenannten 'vier Grundfreiheiten', die in den Römischen Verträgen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vor fünfundfünfzig Jahren [1957] angelegt waren - haben zunehmende Verflechtung und Arbeitsteilung ermöglicht und den Wohlstand in Europa gesteigert. 'Der Grundgedanke war dabei eine Integration durch Wettbewerb', sagt Renate Ohr, Wirtschaftsprofessorin an der Universität Göttingen."

"Integration durch Wettbewerb war vielen stets suspekt... Das Gegenmodell zur liberalen 'Markt-Integration' ist die institutionelle Integration. Sie setzt auf eine Integration 'von oben', durch politische Gremien und Behörden, die einheitliche Gesetze oder Marktordnungen erlassen. Die neue Regulierung mit zum Teil grotesk-kleinlichen Vorschriften bis hin zum (inzwischen aber schon nicht mehr relevanten) Krümmungsgrad der Gurken hat viel zur EU-Verdrossenheit beigetragen. Schlimmer noch: Zu weitgehende 'Harmonisierung' und Koordinierung schalten den Wettbewerb der Institutionen aus. Wirtschaftsprofessorin Ohr sieht die Einführung des Euro als Ausschaltung von Währungswettbewerb - mit schädlichen Folgen."

"Die Verhandlungen zum EU-Finanzrahmen bildeten geradezu einen Kristallisationspunkt der unterschiedlichen Vorstellungen von Europa... Die Botschaft der Briten [den Europahaushalt um bis zu 200 Mrd. Euro zu reduzieren] war deutlich: Es ist ein Mythos, dass das EU-Budget Wachstum stimuliert. Der wahre Weg, um Wachstum zu fördern, seien nationale Reformen, erklärte Europaminister David Lidington. Die Kommission und das Europaparlament, die stets zu den Vorreitern auf dem Weg zu mehr Europa gehören, sahen das naturgemäß anders... [Kommissionspräsident Barroso:] Während die EU-Staaten ihr Geld nur verschwenden, investiert die EU in sinnnvolle Projekte. Dass auch künftig mehr als ein Drittel des Haushalts für Agrarhilfen und ein weiteres Drittel für zweifelhafte Strukturhilfen fließt, focht ihn dabei nicht [an].... Für ein größeres EU-Budget treten die 15 Länder ein, die sich als 'Freunde der Kohäsion' bezeichnen, die südeuropäischen und die meisten neuen, osteuropäischen EU-Staaten... Schließlich gehören sie zu den Hauptprofiteuren der Umverteilung im Rahmen der Strukturfonds."

"Finanzminister Schäuble ...fordert direkte Durchgriffsrechte für den EU-Währungskommissar auf die Haushalte der Länder, falls sie zu hohe Defizite machen. Der Sachverständigenrat glaubt nicht, dass das funktonieren kann. 'Wir halten es für utopisch, dass ein EU-Kommissar in die laufende Haushaltspraxis der Mitgliedsländer durchgreift', sagt [ein Mitglied des Sachverständigenrates,] Feld. Das gehe in einem europäischen Einheitsstaat, aber nicht in einem Verbund weiterhin souveränder Staaten."