Der madagassische Sonderweg zum Video: Madagaskar - Schatztruhe der Evolution
Madagascar - Treasure Chest of Evolution
Lokale Evolution
Evolution findet immer lokal statt, wobei sich die biologischen Neuerungen entsprechend den geographischen Möglichkeiten ausbreiten. So haben verschiedene Kontinente auch bei gleichen klimatischen Verhältnissen eine unterschiedliche heimische Flora und Fauna.
Besonders auffällig ist die Restriktion der Ausbreitungsmöglichkeiten bei Inseln, deren bekanntestes Beispiel wohl die Galapagosinseln sein dürften, deren Besuch 1835 Charles Darwin Anregungen gab für seine Entwicklung der Theorie der Entstehung der Arten.
Die Artenzahl (oder besser die Artendichte, also Arten/Fläche) hängt typischerweise vom Breitengrad ab und steigt von den polaren Regionen über gemäßigte Zonen zu den Tropen hin an. Innerhalb dieses Großtrends steigt die Artendichte mit der Diversität der Biotope, also beispielsweise verschiedenen Höhenzonen, Temperaturzonen, Niederschlagszonen (darunter wieder differenziert nach Häufigkeitsverteilung der Niederschläge über das Jahr), oder unterschiedlichen Böden und Geländeformen (Fels, Höhlen, Küste, stehende und fließende Gewässer).
Endemismus, d. h. Vorhandensein von Spezies ausschließlich an diesem Ort, ergibt sich durch die Ausbreitungsbarrieren, wie z. B. Wasser für Landlebewesen, Trockengebiete für Regenwaldbewohner, hohe Gebirge für wärmeliebende Lebewesen usw.
Wo in diesem Zusammenhang findet sich Madagaskar?
Es hat einerseits alle Voraussetzungen für einen hohen Artenreichtum: Lage in den Tropen, sodann außer Schneeregionen und Vollwüsten praktisch alle denkbaren regionalen Biome (Höhen von null bis 2800 m, Niederschläge zwischen 300 und 6000 mm/Jahr, unterschiedliche jährliche Niederschlagsmuster, Bergland und Ebene, Flüsse, Seen, flache Meeresufer und Korallenriffe).
Andererseits ist seine erdgeschichtliche Entwicklung zu betrachten.
Landmassenverteilung vor 240 Mio. Jahren Quelle (1) |
Zusammensetzung Gondwanas aus heutigen Kontinentalschollen Quelle: unbekannt |
Kontinentalverschiebung 250 Mio. Jahre bis heute Quelle: unbekannt |
Vor 240 Millionen Jahren waren alle großen Landmassen in einem Kontinent vereinigt (s. Abb. links oben). Der Teil südlich des Äquators, der spätere Südkontinent Gondwana, ist in der mittleren Abb. dargestellt, mit dem künftigen Madagaskar unauffällig im Innenbereich. Aus dieser Zeit (230 Mio. Jahre, mittleres Trias) hat man Fossilien von mehr als 46 Wirbeltierarten gefunden, darunter den vielleicht ältesten Dinosaurierfund (7).
Die rechte Abbildung zeigt das Auseinanderdriften der heutigen Landschollen während der letzten 250 Mio. Jahre.
Madagaskar löste sich gemeinsam mit Indien vor etwa 180 Mio. Jahren von Afrika, und blieb vor etwa 80 Mio. Jahren in der Erdkruste stecken, während Indien weiterwanderte, um die eurasische Platte zu rammen und - bis in die Gegenwart - den Himalaya aufzutürmen.
Aus dieser Zeit, als die Abtrennung von Indien gerade erfolgt war (70 Mio. Jahre, späte Kreide) sind ebenfalls Fossilienfunde bekannt - mindestens 40 Spezies, darunter Frösche, Schlangen, Schildkröten, Krokodilartige, Vögel, Dinosaurier und auch Säugetiere. Von den heutigen Arten ist nur eine einzige Fischspezies als Nachfahre zuzuordnen (7).
Positionen von Madagaskar und Indien in den letzten 80 Mio. Jahren längsgestrichelt: 80 Mio. Jahre, quergestrichelt: 60 Mio. Jahre, gepunktet: 40 Mio. Jahre, durchgezogen: heute Quelle: (2) braun: Bewegungsrichtung von Madagaskar; gelb: Subtropischer Wüstengürtel (Rossbreiten) Modifikation durch G. Mair |
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Madagaskar ist also seit 80 Mio. Jahren durch etwa 400 km Abstand (Straße von Mosambik) vom nächsten Festland (Afrika) getrennt. Man kann dies in gewisser Weise mit der Situation Australiens (das allerdings 13 mal größer ist) vergleichen. Dieses kam dem eurasischen Kontinent im Pleistozän (vor 2,5 Mio. Jahren) am nächsten, als auf Grund der Eiszeiten der Meeresspiegel tiefer lag und Sunda (heutiges Südostasien mit Borneo und westlichem Indonesien) von Sahul (heutiges Neuguinea und Australien) durch eine etwa 1000 km breite Meeresstraße getrennt war, die jedoch zahlreiche Inseln als "Trittsteine" aufwies.
Für die Entwicklung während der insulären Phase, also jünger als 80 Mio. Jahre, ist eine weiterer Tatbestand wesentlich: Madagaskar driftete von einer Position etwa auf dem 30. Breitengrad erst spät auf seine heutige Lage (12. - 25. Breitengrad) (s. Abb. rechts). Damit befand es sich lange innerhalb der subtropischen ariden Hochdruckzone (Rossbreiten), die seine Nordspitze vor etwa 30 Mio. Jahren verließ. Erst zu diesem Zeitpunkt setzte der feuchtigkeitsbringende Südostpassat ein. Der Nordwestmonsun begann noch später, etwa vor 8 Mio. Jahren, als Indien im Zusammenstoß mit der eurasischen Platte den Himalaya und Tibet auftürmte, und sich dadurch ein stabiles Nordwinterhoch über Zentralasien zu bilden begann, dessen Luftmassenausläufer bis in den Nordwesten Madagaskars reichen sollten.
Vor 80 Mio. Jahren dominierten die Dinosaurier, die Wälder waren von Palmfarnen geprägt. Säugetiere und Blütenpflanzen steckten noch in den Kinderschuhen.
Die Landmassentrennung bewirkte dreierlei:
- Die evolutionäre Entwicklung der getrennten Flächen koppelte sich untereinander ab.
- Die nun eigenständige evolutionäre Uhr in Madagaskar begann langsamer zu ticken. Weniger Landfläche bedingte geringere Populationen und somit geringere Wahrscheinlichkeiten für Mutationen (der sogenannte "Inseleffekt").
- Biologische Neuentwicklungen vom Festland kamen je nach Reisemöglichkeit nur selten (Säugetiere z. B. durch unfreiwillige Floßfahrten) oder überhaupt nicht (alle großen Festlandtiere) nach Madagaskar.
- Die im mittleren Trias (vor 50 Mio. Jahren) ariden Bedingungen führten zur Auslöschung der meisten feuchtigkeitsabhängigen Pflanzen und Tiere, wodurch der Weg frei war für eine ausgeprägte Diversifizierung der vorhandenen Spezies.
So bildet der "Dornenwald" im Süden Madagaskars heute die älteste Artenzusammenstellung; der Regenwald entwickelte sich erst relativ spät, in den letzten 30 Mio. Jahren.
Einwanderungszeiträume verschiedener Tierarten Quelle: Eigene Darstellung mit Daten aus (3) |
Die obenstehende Graphik zeigt die Einwanderungszeiträume einiger Tier"gruppen". Während für Vögel und Fledertiere - aber auch z. B. Pflanzen (-Samen) oder Insekten (-Eier) durch Windverfrachtung oder Huckepacktransport - die Transportwahrscheinlichkeiten höher waren, spekuliert man, dass für die größeren Landtiere eventuell nur einzelne Paare oder ein trächtiges Weibchen die Reise geschafft haben könnten.
Dank der analytischen Methode der "genetischen Uhr", die die Häufigkeit genetischer Unterschiede zwischen zwei zu vergleichenden Arten misst und daraus das Alter des gemeinsamen Vorfahrens bestimmt, lassen sich die Wanderungsereignisse in einigen Fällen bis auf wenige Mio. Jahre genau abschätzen.
Die Graphik oben zeigt, dass Säugetiere - neben den Fledertieren - genau in vier Gruppen, d. h. möglicherweise mit genau vier erfolgreichen "Floßfahrten" in Madagaskar ankamen, vor etwa 70-25 Mio. Jahren. Diese Gruppen sind die Lemuren, Insektenfresser, Nagetiere und Raubtiere: Die etwa 200 Säugetierarten stammen also von nur vier Vorfahren (mit Ausnahme der Fledertiere) ab (3) (4).
Die Lemuren sind Feuchtnasenaffen, damit Verwandte der Trockennasenaffen, aus denen sich die Menschenaffen und der Mensch entwickelten.
Die Insektenfresser (Tenrecs) sehen teilweise aus wie Igel (sind aber keine).
Die Nagetiere sehen aus wie Mäuse oder Ratten (ebenfalls ohne Verwandtschaftsbeziehung zu diesen).
Die Raubtiere sind katzen- oder mungoartig (Verwandtschaftsbeziehung s. Anmerkung 8).
Manche Biologen nennen Madagaskar "die Insel der lebenden Fossilien", da hier Arten leben, die andernorts durch evolutionäre Weiterentwicklungen ersetzt wurden.
Auch andere Wirbeltiere wanderten in Einzelereignissen über das Meer ein.
In der obigen Graphik ist der Mantellafrosch, eine auf Madagaskar mit vielen Arten vertretene Familie, beispielhaft dargestellt. Für Frösche insgesamt sind mit der genetischen Uhr sechs unterschiedliche Vorfahrenslinien nachweisbar, für die seewasserrestistenteren Reptilien 21 Linien (3).
Für viele Arten ist die Datenlage unklar, so wie z. B. für die Boas oder die Leguane (Gondwana-Ursprung oder aus Indien oder gar Südamerika, mit unklarem Wanderweg?).
Homo sapiens wanderte erst vor ca. 2000 Jahren ein, gemeinsam mit Haustieren und Ackerpflanzen.
Madagaskar ist auch etwas Besonderes durch die Arten die fehlen.
Dies sind alle heutigen großen Pflanzen- oder Grasfresser, wie die aus Afrika bekannten Wiederkäuer (Giraffen, Gazellen Antilopen) sowie Elefanten, alle großen Katzenartigen (Tiger, Löwe, Panther) oder Hundeartigen (Füchse, Wölfe, Bären, Marder).
Insbesondere das Fehlen großer "jüngerer" Fleischfresser erlaubte die Entwicklung bzw. den Verbleib einer Artenzusammenstellung, die sonst "heute" nicht überlebensfähig wäre. Auch die Pflanzenevolution wurde sicherlich durch die andere Konsumierung (Lemuren sind auch Pflanzenfresser, aber die aus Afrika bekannte Beweidung der Steppe durch große Herden fehlte völlig) in ihrer - im Vergleich mit den Kontinenten langsamer ablaufenden - Entwicklungsrichtung beeinflusst. Flora und Fauna Madagaskars bieten eine Zeitreise Millionen Jahre in die Vergangenheit.
Nebenbei: Auch Giftschlangen (Giftnattern wie Kobra oder Mamba; Vipern) haben die Seereise nicht geschafft, was den Aufenthalt für Besucher entspannter machen kann!
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Madagaskar wird mit 17 endemischen Wirbeltierfamilien (168 Gattungen), 8 endemischen Pflanzenfamilien (310 Gattungen) und einem hundertprozentigem Endemismus der Primaten (95 Arten (s. Anmerkung 5)) unter den 35 festgelegten Biodiversitätshotspots der Erde als derjenige mit den meisten endemischen Lebewesen genannt (6).
Quellenangaben und Anmerkungen
(1) Colorado Plateau Geosystems, abgerufen 20.11.14
(2) N. A. Wells, "Some Hypotheses on the Mesozoic and Cenozoic Paleoenvironmental History of Madagascar", in:
(2b) S. M. Goodman et al. Ed., "The Natural History of Madagascar" (Chicago: The University of Chicago Press, 2003)
(3) F. Glaw, M. Vences, "A Field Guide to the Amphibians and Reptiles of Madagascar", (Köln: Vences & Glaw Verlag, 2007)
(4) Als fünfter Immigrant kommt der Vorfahr des bereits ausgestorbenen Mini-Flusspferdes hinzu.
(5) Die Zahl der Primatenspezies ist, wie auch in anderen Fällen, als Circa-Wert zu verstehen, da einerseits noch neue Arten entdeckt werden, andererseits die Definition der Arten (Unterscheidung zu Unterarten oder Rassen) durch genetische Untersuchungen und Bewertungen noch stark im Fluss ist.
(6) R. Mittermeier ed., "Lemurs of Madagascar" (Conservation International, 2010)
(7) J. Flynn, A. Wyss, "Mesozoic Terrestrial Vertebrate Faunas: The Early History of Madagascar's Vertebrate Diversity", in (2b)
(8) Für die 7 madagassischen Raubtierarten wurde eine genetische Analyse von Mitochondrien-DNA und Zellkern-DNA durchgeführt und mit anderen Raubtieren wie z. B. Hundeartigen und Katzenartigen verglichen. Es ergab sich übereinstimmend, dass die nächste Verwandtschaftsbeziehung für alle Spezies zu den Mungoartigen (Herpistidae, auch Mangusten genannt) besteht. Dies legt die Abstammung von einem einzigen Vorfahren nahe (Quelle: A. Joder et al., "Origin of Malagasy Carnivora", in (2b)