Biodiversität in Abhängigkeit von menschlichem Handeln
Geschichte der Landwirtschaft mit hohem Naturwert (HNV)
Wie in der restlichen Welt reicht auch in Europa der Einfluss von homo sapiens auf die Biosphäre weit zurück.
Im Jungpaläolitikum, also etwa 40000-10000 Jahre vor unserer Zeit, lebte er gleichzeitig mit Mammut, Wollnashorn, Höhlenbar, Elefant, Flussperd und anderen Großtieren und bejagte diese. Es wird kontrovers diskutiert, ob die Aussterbeereignisse all dieser Tiere in derselben Zeit mit ursächlich durch den Menschen verursacht wurden (s. auch Artensterben - der Einfluss des Menschen). Viele dieser Spezies waren Pflanzenfresser und prägten durch ihre Fressgewohnheiten ihre Habitate - ihr Wegfall mag, vereinfacht gesprochen, zu einer Zunahme von Wald und einer Abnahme offener Flächen geführt haben.
In der Neusteinzeit, also ab dem Beginn der Sesshaftigkeit und des Ackerbaus, führte die Umwandlung von "natürlichem" Bewuchs in Felder und Weiden im Wesentlichen zur Rodung von Wäldern.
In der geschichtlichen Zeit kam, parallel mit den zunehmenden technologischen Fähigkeiten des Menschen und der wachsenden Bevölkerungsdichte, die Waldabholzung für Feuermaterial, Haus- und Schiffsbau, die Trockenlegung von sumpfigen Gegenden, die Begradigung von Flüssen und die Versiegelung durch Städte und Straßen hinzu.
Die Öffnung von Flächen des originalen "Urwaldes" hat, in einem jahrtausendelangen Evolutionsprozess, die Artenvielfalt auch erhöht. Z. B. weisen Wiesenhabitate in Südwestdeutschland 146 verschiedene lokaltypische Pflanzengruppen auf, die es in dieser Form vor dem Einfluss des Menschen nicht gab.
Im Altertum wurden Felder im zweijährigen Rhythmus bearbeitet, im frühen Mittelalter wurde auf die Dreifelderwirtschaft umgestellt. Im 18. Jh. verbreitete sich die Luzerne als Brachenersatz (heute wissen wir, dass dies möglich ist, da sie als Hülsenfrüchtler [Leguminose] Stickstoff aus der Luft umwandeln kann, also als Düngung wirkt). Etwa gleichzeitig wurde begonnen, Vieh in Ställen zu überwintern; dafür war Winterfutter erforderlich, was durch Ernten von Heu, also dem Anlegen von Heuwiesen, bewerkstelligt wurde. Öffentliches (Weide-) Land wurde zunehmend privatisiert und aufgeteilt, auch dies führte zu einer stärkeren Nutzung. Die ersten öffentlichen Obstwiesen entstanden, auf herrschaftlichen Befehl, zur Verbesserung der Ernährungssituation.
Brachen nahmen also über die Jahrhunderte graduell ab, halbnatürliche Wiesen und Weiden jedoch zu. Das Grasen bzw. die Fütterung des zunehmenden Viehbestandes war der eine roter Faden der Habitateingriffe, der zweite war die Flächenverbrauchszunahme dauerhaft bewirtschafteter Felder.
Im Sinne der hier durchgeführten Betrachtung über HNV hatte jede Bewirtschaftungsform vor etwa 1950 hohen Naturwert, da die heute so genannte intensive Landwirtschaft noch nicht bekannt war.
In Europa fand die weitgehende Umstellung in den darauffolgenden 30 Jahren statt, bedingt durch:
- Technologische Entwicklung: Maschinen, Verfügbarkeit fossiler Energie, industrielle Düngemittel und Pestizide
- Marktentwicklung: Durch Entwicklung der Transportmöglichkeiten inklusive Kühlung
- Globalisierung: Für Produkte und Rohstoffe wie z. B. Tierfutter
- EU-Politik: Ein Agrarhaushalt, der im wesentlichen die produzierte Menge aus intensiver Landwirtschaft fördert
Als Zahlen für die Abnahme der extensiv bewirtschafteten Fläche ab 1950 seien beispielhaft genannt: EU-Landwirtschaftsfläche minus 70%, Deutschland Grünland minus 79%, Deutschland Ackerland minus 92% (siehe vorherige Seite Definitionen und Messung), sowie die Entwicklung der Streuobstwiesen: Schweiz minus 70%, Südwestdeutschland minus 60%, England minus 63%; Frankreich zwischen 1982 und 2003 minus 44% (1).
Der Treiber für die intensive Landwirtschaft ist im wesentlichen die betriebswirtschaftliche Sichtweise von Landwirten und Konsumenten. Der private Gewinn, gemessen an den Wertmaßstäben der globalisierten Marktwirtschaft, wird maximiert.
Unter welchen Umständen gibt es heute, nach der weitgehenden Durchdringung der Intensivierung, noch extensive Landwirtschaft?
- Kein "Potenzial" wegen Boden, Klima oder Lage: Es lohnt sich kaufmännisch nicht
- Es liegt - aus der historischen Entwicklung - öffentliches Gemeinland vor (vorkommend z. B. in England und Wales)
- Der Betrieb ist zu klein und/oder investive Mittel stehen nicht zur Verfügung
- Die Gegend ist - marktwirtschaftlich gesehen - abgelegen (z. B. hohe Transportkosten)
- Die politische Anbindung an die globale Wirtschaft ist gering (z. B. Zölle, Versorgungssicherheit, Vertragssicherheit)
- Es fehlt Umsetzungswissen (agrarfachlich, unternehmerisch, finanziell)
- Ausbeutemaximierung steht nicht an oberster Stelle: Familienbetrieb oder Nebenerwerbsbetrieb; Priorität für Biodiversität, traditionelle oder alternative Landwirtschaftsformen, neue Geschäftsmodelle ("organic farming", "Ökolandbau")
- Priorisierung von Nachhaltigkeit gegenüber kurzfristiger Gewinnmaximierung
- Gesetzliche Vorgaben: Landschafts- und Artenschutz
Heute gibt es mehrere Trends teilweise gegenläufiger Richtung:
1. Die Auspreisung: Je effektiver die Technologie wird, desto eher lohnt sich die Umstellung von extensiver auf intensive Landwirtschaft (im kaufmännischen Sinn).
2. Die Aufgabe: Bei allgemein steigendem Lebensstandard und Alternativen zum Lebensunterhalt werden "nicht lohnende" Flächen, die möglicherweise mit hohem Arbeitsaufwand bewirtschaftet wurden, aufgegeben.
3. Gesellschaftlicher Wertewandel: Öffentliche Meinung, und damit einhergehend Gesetze, führen über finanzielle Unterstützung (EU-Agrarhaushalt), direkte oder indirekte Preisbildung (ökologische Produkte oder attraktive Kulturlandschaften als Marktwert), gesetzliche Vorgaben (z. B. Reduzierung des Düngereintrags in benachbarte Habitate) und gesellschaftliche Akzeptanz/Ablehnung zu Veränderungen im Wirtschaftsverhalten.
Die Gesamtentwicklung zeigt heute nach Ansicht der EU noch nach unten (das 2000 gesetzte Ziel, bis 2010 den Artenschwund in Europa zu stoppen, wurde als nicht erreicht bezeichnet) - ein Gut, das 1950 noch konkurrenzlos und im Überfluss vorhanden war, nämlich artenreiche Habitate in ausreichender räumlicher Vernetzung, ist heute knapp und nimmt weiter ab. Die Gesellschaft ist gefragt, wie sie mit dieser Situation umgehen will.
Literatur
(1) R. Oppermann et al. (Eds), "High Nature Value Farming in Europe" (Ubstadt-Weiher: verlag regionalkultur, 2012)
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