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Manipulationskraft von Tabus als Risiko für die Euro-Politik

 

Bröckeln die Tabus?


 
    Quelle: FAZ vom 28.9.2011



Die obige Karrikatur der FAZ löste prompt die Reaktion einer deutschen Ministerpräsidentin aus, die die Wortwahl als "unanständig" bezeichnete. Was die Redaktion als Steilvorlage aufgriff, und in einer Glosse antwortete, dass der [EU-Kommissar] "Parteifreund Öttinger mit der Halbmast-Idee den besseren schlechten Witz machte". 


"Darf man das sagen?" - oder wie wir durch Tabus manipuliert werden


Im September 2011 stimmte der Bundestag "mit Kanzlermehrheit" (Ist es ein Tabubruch, wenn Abgeordnete für ihr professionelles Gewissen und nicht für ihre Partei stimmen?) für die Quasi-Verdoppelung des Eurorettungschirmes auf 780 Mrd. Euro, um ihm verfügbare 440 Mrd. Euro (zu besten Marktkonditionen) zu verschaffen. Die Kanzlerin hatte das prinzipielle Vorgehen vorangehend als "alternativlos" bezeichnet.
Dies ist ein Tabugebot: Alternativen zu einer "alternativlosen" Situation sind tabu.
Im zeitlichen Umfeld dieser Abstimmung wurde bereits über die Möglichkeit nachgedacht, den vergrößerten Rettungsschirm (um eine weitere manipulative Denkfixierung aufzubrechen: Vielleicht sollte man anregen, die alternative Bezeichnung "Euro-Zerstörungsschirm" in der öffentlichen Diskussion zuzulassen) durch "Kredithebel" finanziell weiter aufzublasen (diese Hebelprodukte als "finanzielle Massenvernichtungswaffen" zu bezeichnen, als Lehre aus der globalen Finanzkrise 2008, ist sicherlich nur deshalb kein Tabu, da diese Aussage vom amerikanischen Großinvestor Warren Buffet stammt, der offenbar "so etwas sagen darf").
Der Präsident des Verbandes der Familienunternehmer Goebel, der dafür eintrat, dass "Risiko und Haftung in der Finanzwelt wieder zusammengeführt werden" (FAZ vom 9.9.2011) und gegen den EFSF in seiner aktuellen Form war, da "durch den EFSF ...ein immer grö0eres Schuldengebirge aufgetürmt [wird], das den Euro nicht retten wird, sondern die Spaltung Europas vorantreibt" (FAZ vom 24.9.2011), wies in seiner Stellungnahme auf ein weiteres Tabuwort hin, "Lehman Brothers". Diese amerikanische Investmentbank galt durch ihre Pleite im Herbst 2008 als "Auslöser" der Finanzkrise, und dient seither als Schreckgespenst der unbeherrschbaren Finanzmärkte, denen alle "systemrelevanten" (ein weiteres Tabu-Wort) politische Aktionen mit oberster Priorität unterzuordnen seien. 
Er konterte allerdings mit dem Tabu-Brecher "Euro-Rettung: Kurswechsel für die Titanic!" (Quelle s.o.) (Die Titanic galt wegen ihrer hochmodernen 15 wasserdichten Schotten als unsinkbar; es war tabu, etwas anderes zu denken..., bis zum 15.4.1912).  
Die FAZ entschloss sich am 2.10.11, gleich zwei Tabubegriffe aufzubrechen.
1. "Drachme": Unter der Überschrift "Griechenland sollte austreten" und mit "Die Drachme könnte den Export stimulieren" ließ sie Kelpanides, einen griechischen Soziologen, zu Wort kommen, der für Europa und - deshalb - für die Drachme sprach. So wie Warren Buffet Derivate kritisieren darf, darf ein Grieche, und nur dieser, sich einen Euro-Austritt wünschen. Dass er klassisch als "links" geltende und stark gesellschaftskritische Positionen vertritt, soll hier nicht stören - schließlich hatte es auch die Finanztransaktionssteuer von einem tabuisierten linken Begriff ins Lager der EU-Finanzminister geschafft, die selbige für Europa vorschlugen (FAZ vom 19.9.2011).
2. "Staatspleite": Die drohende Blockade des neuen Euro-Hilfsfonds durch die Slowakei, in der ein Koalitionspartner dagegen stimmen wollte (Stand 3.10.2011), setzte die FAZ in ein Interview mit dessen Parteivorsitzendem um: "Der Euro funktioniert nur, wenn Staaten pleitegehen". Wiederum wurde ein Systemaußenseiter (bezogen auf die Zentren der Macht) bemüht, eine politische Meinung zu formulieren, die ein bestehendes Tabu brechen sollte.

Was passierte ansonsten vor oder hinter den Kulissen in den vergangenen zwei Monaten?
Der deutsche EZB (europäische Zentralbank)-Direktor Stark trat zurück, da er die Verantwortung für den Kauf von Staatsanleihen nicht länger mittragen wollte; die Idee von Eurobonds wurde kontrovers diskutiert ("Defizit-Party in der Euro-Peripherie"); Griechenlands Gläubiger sollten durch eine Umschuldung von 21% beteiligt werden (die französische Presse bezeichnete die bereits als völlig ungenügend, hielt 50% für notwendig und damit den Bankendeal für ein gewinnbringendes Geschäft für die Schuldner (Le Monde vom 3.10.2011)); das Europaparlament stimmte über eine Verschärfung des Stabilitätspaktes ab, der Kontrollen und Strafen vorsehen soll; Großbritannien dachte über ein Trennbankensystem nach, das bis 2019 eingeführt werden solle.
 

Pessimistischer Ausblick:
Die Deutschen und die Europäer gewöhnen sich an die ständig mit größeren Zahlen drehenden "Rettungs"-Schirme, so wie die Witzfigur, die im 100sten Stockwerk aus dem Hochhaus springt, auf Höhe des 10. Stockwerkes sagt: "Bisher ist ja alles gut gegangen".

Optimistischer Ausblick:
Die sachliche Arbeit einer genügenden Anzahl verantwortlich denkender Interessenvertreter im Hintergrund und auch auf der politischen Bühne wendet die Titanic - vielleicht unterstützt durch eine Tabu-aufmerksamere Öffentlichkeit (siehe auch "Des Kaisers neue Kleider").

Es bleibt spannend.

Stand Oktober 2011