__________________________________ Das Buch: "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

______________________________________________ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

Flächenmodell am Beispiel Deutschlands: Modellierung von Energieeintrag, Strom- und Niedertemperaturwärmebedarf

 

Was kostet die 100-%-Energiewende 2050 für Strom und Niedertemperaturwärme ?


Der folgende Artikel beschreibt in vereinfachter Form die Ergebnisse einer Studie (1) des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg/Breisgau.

Zielsetzung
Die Zielsetzung dieser Untersuchung weist Ähnlichkeiten zur Studie "Energiewende 2020 für Strom" auf, indem sie auch die Frage stellt: Was kostet eine Energiewende mit 100 % erneuerbarer Energie? - und dafür ebenso ein Flächenmodell, in diesem Fall Deutschland, benutzt, um mit stündlich aufgelösten Wind- und Solarenergieeinträgen sowie den  Verbräuchen die kostengünstigste funktionierende Variante zu generieren.
Der wesentliche Unterschied im Ansatz besteht darin, dass zusätzlich zum Strombedarf neben den Netzanforderungen auch der Niedertemperatur-Wärmebedarf (Raumheizung und Warmwasser) berücksichtigt und in die Optimierungsrechnung einbezogen ist.
  
Iststand Deutschland 2011
Primärenergieverbrauch: 3720 TWh (13,6 EJ) (2) (Zu Potenzabkürzungen und Umrechnungsfaktoren siehe (3))
Endenergienutzung:       2470 TWh (8,9 EJ) (2)
davon Stromverbrauch:    500 TWh
          Wärme:                880 TWh

Energiekosten für Endverbraucher:                   260 Mrd. € (2008)
Energiekosten vor Steuern und Gewinnen: ca. 190 Mrd. €
Davon entfallen etwa die Hälfte auf Rohstoffe (Kohle, Öl, Gas), die andere Hälfte auf Betriebs- und Finanzierungskosten. Kosten für CO2 sind hier nicht enthalten.

Die hier dargestellte Studie umfasst mit Strom (inklusive Bahn) und Niedertemperaturwärme, aber ohne fossilen Verkehr, ohne Industriewärme und ohne nichtenergetische Nutzung (wie Zement- oder Chlorherstellung) etwa 62 % (4) des Gesamtenergieverbrauches, entsprechend heutigen jährlichen Kosten von rund 120 Mrd. €.

 

 
                        Kostenannahmen für das Jahr 2050
     PV Photovoltaik, GuD Gas-und-Dampf, KWK Kraft-Wärme-Kopplung;
      BHKW Blockheizkraftwerk; FK Fertigungskosten

      weitere Erläuterungen siehe Text
      Quelle: Daten übernommen von Henning et al. 2012 (1)

Für die Studie werden folgende Annahmen getroffen:
- Fläche Deutschland,stündliche Auflösung von Solar- und Wind-Energieeintrag sowie elektrischen und Niedertemperatur-thermischen Energiebedarfen.
- Strombedarf 2050 = Bedarf 2011.
- Wärmebedarf ist freier Parameter durch energetische Sanierung, die auch Bestandteil der Kostenkalkulation ist (siehe weiter unten).
- Energieformen: Sonne, Wind, Wasser, Biomasse --> Strom; Sonne, Biomasse --> Wärme.
- Kraftwerke: GuD (zweistufiges Gas- und Dampfkraftwerk mit höherer Ausbeute als reine Dampfkraftwerke); teilweise kombiniert mit KWK (Kraft-Wärme-Kopplung, d. h. ein Teil der Abwärme wird genutzt); dezentrale BHKW (Blockheizkraftwerke, die für mehrere Wohneinheiten Strom und Wärme produzieren). Alle Kraftwerksformen sind heute bereits Stand der Technik.
- Heizung solarthermisch oder mit elektrisch oder gasbetriebenen Wärmepumpen.
- Speicher: Wasser, Methan, Akkus. 
- Kosten: Invest- und Betriebskosten der einzelnen Bausteine sind der Tabelle rechts zu entnehmen.

Restriktionen:
- Laufwasserkraft wird mit maximal 5 GW / 21 TWh angesetzt, Pumpspeicher mit maximal 10 GW / 60 GWh. Dies entspricht etwa 100 / 130 % der heutigen Werte. 
- Die Erzeugung von Biomasse wird mit maximal 50 TWh (thermisch) angenommen.
- Für Windkraft werden als Obergrenzen 200 GW (Land) und 85 GW (See) eingesetzt.
- Die Fläche für PV mit Solarthermie kann maximal 2800 km2 betragen (42 % Dach, 24 % versiegelte Fläche, 19 % Schiene, 8 % Fassade, 7 % Autobahn).



Zeitauflösung von Stromerzeugung, -Speicherung und -Nutzung
Die Graphik links unten zeigt exemplarisch eine reale Woche des Jahres 2011 mit einer Energieversorgung des Szenarios von 2050.
Bei der Stromerzeugung erkennt man die Tagespeaks der Photovoltaik (dunkelblau), sowie in der Wochenmitte einige windige Tage (braun und grün). Dazwischen fehlende Bedarfe werden im wesentlichen durch GuD (hellblau) und GuD-KWK (hellbraun) gedeckt.
Die klassische Verbraucher-Stromnutzung ist im oberen Diagrammteil blau dargestellt, sowie die szenariengemäße Wärmepumpennutzung dunkelbraun. Die Überschüsse werden in hauptsächlich als Methan (grün) oder in Wärmespeichern (hellbraun) gepuffert.
An diesen Darstellungen erkennt man anschaulich, dass zeitweise ein Mehrfaches des Verbrauches erzeugt wird, und umgekehrt zeitweise nahezu keine direkte Energie (Wind oder PV) vorhanden ist. Die zeitliche Modellierung dieser Tatsache ergibt dann den kurz- und langfristigen Speicherbedarf.

Kostenmodell der thermischen Sanierung

Rechts unten ist die Kostenannahme für die thermische Gebäudesanierung dargestellt. Man kann beispielsweise ablesen, dass eine Halbierung des Heizbedarfs etwa 130 €/m2 kosten soll. Dabei ist eine gleichzeitige normale Sanierung unterstellt, sodass z. B. Gerüstkosten oder Anstriche nicht extra anfallen, sondern nur etwa das Dämmmaterial und Energiesparfenster.

 
              Energetische Gebäudesanierungskosten (€/m2)
                    als Funktion des Sanierungsgrades (%)

  Szenario 2050
  Quelle: Henning et al. 2012 (1)
    Stromnutzung und Stromerzeugung (GW) in einer Frühjahrswoche
Wetterdaten 2011, Verbrauchsszenario 2050
Sp Speicher; PSKW Pumpspeicherkraftwerk, P2G Methanherstellung; WP Wärmepumpe; KWK Kraftwärmekopplung, GuD Gas-und Dampfkraftwerk; off Meer ("off shore"); on Land ("on shore")
Quelle: Henning et al. 2012 (1)
   




Verbundsystem und Energieströme
Das folgende Schema zeigt das modellgemäße Verbundsystem mit den Leistungs- und Energiezahlen, die der kostengünstigsten Variante entsprechen.
a) Erläuterung des Verbundes: In der linken Spalte stehen die Primärenergien (plus die grün dargestellte Biomasse der zweiten Spalte). Nach rechts folgt die Speicherung (oberste Zeile) in Kurz- und Mittelfristspeicher (grau), darunter ist die Methanherstellung ("Power to Gas", blau) mit Langzeitspeicherung (grau) abgebildet. Wiederum weiter rechts folgt eine Spalte der zentralen Kraft- und Wärmeerzeugung: Gaskraftwerk mit und ohne Wärmekopplung (blau), Solarthermie (orange), die eigentlich noch der Primärenergie zugehört. 
In der nächsten Spalte stehen blau/orange als dezentrale Abnehmer und Erzeuger die Gebäude, jeweils mit einer Kombination von Solarthermie mit Gas- oder Elektrowärmepumpen oder mit Blockheizkraftwerken ("Mini-KWK").
In der vorletzten Spalte sieht man grau zentrale und dezentrale Wärmespeicher.
Ganz rechts stehen die Bilanzzahlen der Verbraucher, elektrisch und thermisch.

   
                                                      System, das zu den niedrigsten jährlichen Gesamtkosten führt
                                             
Quelle: Henning et al. 2012 (1)


 




b) Leistungs- und Energiezahlen: Für Erzeuger ist die installierte (Maximal-) Leistung (GW) angegeben, für Speicher die installierte (maximale) Energieaufnahme (GWh oder TWh), für den Betrieb der jährliche Energiefluss (TWh, gemeint ist TWh/a).
In der Kostenoptimierungsiteration resultierte eine optimale energetische Gebäudesanierungsrate um etwa ein Drittel von 100 % auf 65 % Wärmebedarf (rosa Kasten). Daraus folgt szenariengemäß eine thermische Last von 625 TWh zusammen mit der elektrischen Last von 500 TWh, gesamt eine Last von 1125 TWh/a, entsprechend einer Durchschnittslast von 128 GW (57 GW elektrisch, 71 GW thermisch).
Dafür müssen 574 GW installiert werden (Summe der Primärenergieerzeuger), d. h. etwa dasViereinhalbfache.
Im vorliegenden billigsten Szenario stellt sich heraus, dass Wind, sowie Wasserkraft und Biomasse, jeweils mit ihren maximal zugelassenen Kapazitäten eingesetzt werden; der Rest wird mit PV aufgefüllt.
Bei den Kraftwerken fällt auf, dass mehr Strom aus GuD (ohne Wärmekopplung) als mit Wärmekopplung erzeugt wird. Strom ist offenbar so günstig, dass wegen des Einsatzes der Wärmepumpen wenig Wärme zusätzlich benötigt wird, "Wärme ist im Überschuss vorhanden". Dies führt auch zu der relativ moderaten Gebäudesanierungsrate von 65 %.
Weiterhin auf der Verbraucherseite sind Blockheizkraftwerke nicht attraktiv, sie werden überhaupt nicht eingesetzt.
Aus den Speicherangaben lässt sich errechnen, dass - vereinfacht - Akkus alle zwei Tage, Pumpspeicher alle drei Tage und Methanspeicher zweimal jährlich umgeschlagen werden. Die gesamte Speicherkapazität (201 GWh) reicht rechnerisch für 65 Tage. 
Die Fluktuation der Erzeugung führt bei der installierten Leistung zu folgenden Kennzahlen:
1. Die Methanerzeugungsnennleistung, d. h. die Kapazität der Ersatz-Primärleistungsabnahme, beträgt mit 88 KW etwa zwei Drittel des Durchschnittsverbrauches. Damit wird bei Überschuss gespeichert.
2. Die thermische Kraftwerksnennleistung (GuD plus KWK) beträgt mit 94 GW das 1,6-fache des elektrischen Durchschnittsverbrauches. Damit wird bei Unterschuss und gleichzeitig maximaler Abnahme geliefert (1,6 ist auch heute ein typischer Wert für das Verhältnis Spitzenbedarf zu Durchschnittsbedarf).  .
3. Die Auslastungen der Primärenergieerzeuger betragen: Wasserkraft 48 %, Wind (See) 40 %, Wind (Land) 20 %, PV 11 %, Solarthermie (zentral) 7 %. Hohe Auslastung bedeutet Kostenersparnis; die genannte Reihenfolge ist identisch mit der heutigen Rentabilitätsreihenfolge.

Kosten
Das dargestellte Szenario ergibt mit den im Modell verwendeten betriebswirtschaftlichen Zahlen Gesamtkosten von 119 Mrd. Euro jährlich. Dies ist nahezu identisch mit den eingangs genannten heutigen Kosten von 120 Mrd. Euro. D. h. zu heutigen (2011) fossilen Energiepreisen wäre die 100-%-Energiewende (für Strom und Niedertemperaturwärme) kostenneutral.
In den Modellrechnungen wurden außer dem kostengünstigsten Szenario auch weitere Szenarien berechnet, z. B. mit fix gehaltenen höheren und niedrigeren Gebäude-Sanierungsgraden. Ein höherer Sanierungsgrad auf 40 % (statt auf 65 % gegen heute) reduzierte die erforderlichen Kapazitäten erheblich: PV von 252 auf 178 GW, Wind (Land) von 200 auf 170 GW, Wind (See) von 85 auf 75 GW, Methanerzeugung von 85 auf 54 GW. Dennoch war dieses Szenario (geringfügig) teurer mit 126 Mrd. Euro jährlich.
Kommentar aus der Studie: Parameteränderungen erhöhen die Kosten einigermaßen gutmütig. Dies eröffne der Politik mehrere Pfade, z. B. könnten bei Widerständen gegen viele Windparks mit den erforderlichen Trassensystemen durch stärkere Fokussierung auf die Gebäudesanierung alternative, kaum teurere Wege eingeschlagen werden.

Teilnutzung fossiler Energien
Links unten sind die notwendigen Installationen bei fossilen Energieanteilen bis etwa 30 % dargestellt.
Man kann die Graphik von rechts nach links betrachten, als zeitlichen Übergangsweg, und ablesen:
1. Speicherung (Akku, Methanisierung "P2G") wird erst ab 70 % EE erforderlich (dies deckt sich mit dem Ergebnis von "Kosten 100 % EE Strom").
2. Kraftwärmekopplungskraftwerke werden allmählich von reinen GuD-Kraftwerken abgelöst. Mit fossiler Energie ist es kostengünstiger, mehr Wärme zu produzieren, und diese in Gebäudeheizung zu verbrauchen. Der kostengünstigste Sanierungsgrad bei 30 % fossiler Energie beträgt "nur" 80% (von 100%), um später auf die bereits genannten 65 % zu steigen.
3. Bei 30 % fossilem Anteil ist Wind (See) bereits voll installiert; Wind (Land) wird später moderat, PV stark ansteigen, um die letzten 30 % EE-Versorgungsgrad zu erreichen.

 
           Installierte Kapazitäten (GW, GWh) als Funktion des
                              fossilen Brennstoffanteils

off Meer ("off shore"); on Land ("on shore"); P2G Methanherstellung; KWK Kraftwärmekopplung, GuD Gas-und Dampfkraftwerk; Re Anteil ("renewable") erneuerbarer Energie-Anteil.
300 TWh fossile Energie entsprechen knapp 30 % fossilem Anteil, s. blaue Kurve "RE Anteil" (rechte Prozent-Skala)
Quelle: Henning et al. 2012 (1)
                    Effizienzbeiträge verschiedener Energiesektoren
 Quelle: Henning et al. 2012 (1)


100 % EE für alle Energiebereiche?
Mit dem Forderungskatalog (s. Abb rechts oben):
   1. Heizwärmebedarf auf 40 % reduziert,
   2. Nicht-Strom-Brennstoffverbrauch der Industrie um 30 % reduziert,
   3. Umstellung des Verkehrs auf Strom (Annahme hier: 50 % Akku, 50 % Wasserstoff),
   4. Reduktion des nichtenergetischen Stromverbrauchs (z. B. Zement-, Aluminium- oder Chlorherstellung) um 30 %,
wird unter der Annahme, dass die Hochtemperaturwärme der Methanherstellung (sog. Sabatier-Prozess, er ist stark exotherm [Delta H0 = -165 kJ/mol]) für die Industrie genutzt werden kann, ein 100-%-EE-Szenario mit knapp 1500 TWh/a Endenergieverbrauch bei einem Primärenergieverbrauch von etwa 1800 TWh/a ermittelt.
Die Verluste betragen betragen 17 % (300 TWh/a) und liegen damit erheblich unter den heutigen Verlusten von 34 %. Grund hierfür sind einerseits die weitgehende direkte Stromerzeugung (PV, Wind, Wasserkraft), andererseits die wesentlich geringeren Umwandlungsverluste im Verkehrssektor.

Interpretation

  • Diese Studie geht mit der Kombination von Strom- und Wärmeerzeugung sowie einer Einbeziehung der Leitungsnetze einen wesentlichen Schritt bei der ökonomischen Potenzial-Auslotung voran.
  • Die Potenziale von Wärmeverbund und von Varianten der Gebäudeheizung werden anschaulich gemacht.
  • Die Kostenergebnisse hängen natürlich von den Input-Zahlen ab (Schätzungen für spezifische Invest- und Betriebskosten sowie fossile Energiepreise). Diese müssen ggf. kritisch hinterfragt werden.
  • Der Technologieübergang von 70 % auf 100 % erneuerbare Energie wird ebenfalls anschaulich dargestellt.






Literatur und Anmerkungen:
(1) H. Henning, A. Palzer, "100 % Erneuerbare Energien für Strom und Wärme in Deutschland", Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE (Freiburg, 2012)
(2) BMWI (Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie), "Energiedaten, Zahlen und Fakten"
(3) Kilo = 103, Mega = 106, Tera = 109, Peta = 1012, Exa = 1015
     Joule (J) geteilt durch 3600 = Wattstunden (Wh)
     durchschnittliche Jahresleistung in Watt (W) mal 8760 = jährlicher Energieverbrauch in Wattstunden (Wh)
(4) Die Prozentzahl stimmt nicht exakt mit den BMWI-Daten überein, da in der Studie eine etwas andere Summierung angewendet wurde.