_ "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

__ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

Klimawandel-Kippelemente mit Beispiel Amazonasregenwald

 

Mögliche Kippelemente des Klimawandels

Dezember 2022

 
                                Räumliche Verteilung der globalen und regionalen Kippelemente
Quelle: PIK 2022 (1)

Man geht davon aus, dass einige Klimawandelfolgen nicht linear erfolgen, sondern sich bei Überschreiten eines Temperaturgrenzwertes weiter verstärken, selbst wenn - hypothetisch - die Klimagasproduktion schlagartig auf Null zurückginge.
Die Karte oben zeigt die aktuell für wahrscheinlich gehaltenen sogenannten Kippelemente. Vollkreise bedeuten, dass deren Wirkung global ist. Die im folgenden Text angegebenen Kipptemperaturen sind jeweils Mittelwerte der Schätzungen.
Einige Beispiele daraus:

  • Abschmelzen von Eis
    Für Grönland und den westantarktischen Eisschild erwartet man das Kippen bereits bei unter 2oC Temperaturerhöhung. Der Vorgang des vollständigen Schmelzens würde allerdings tausende Jahre dauern. Der Meeresspiegel würde um 7 bzw. 3 Meter ansteigen. Der ostantarktische Eisschild kollabiert bei rund 7,5oC Temperaturerhöhung. Der Vorgang würde mehr als zehntausend Jahre dauern und den Meeresspiegel um weitere 50 m erhöhen.
  • Absterben tropischer Korallenriffe
    Dies wird ab 1,5oC Temperaturerhöhung erwartet, d. h. voraussichtlich innerhalb des nächsten Jahrzehnts, mit einer Prozessdauer von nur 10 Jahren. Tropische Korallenriffe sind eines der Ökosysteme mit der höchsten Biodiversität auf der Erde. Sie haben hohen Einfluss auf die Nahrungskette im Meer.
  • Auftauen des Permafrostbodens
    Im gefrorenen Boden ist organischer Kohlenstoff gespeichert, der bei teils anaerober (sauerstoffarmer) Zersetzung als CO2 und Methan freigesetzt würde. Das "plötzliche Abtauen" (s. Karte), gemeint ist ein Auftauen der oberen drei Meter, wird ab 1,5oC Temperaturerhöhung innerhalb von 200 Jahren erwartet. Das komplette Auftauen ("Kollaps" laut Karte) wird bei rund plus 4oC erwartet und könnte sich innerhalb von 50 Jahren abspielen. Die freigesetzte Klimagasmenge würde zu einer zusätzlichen Temperaturerhöhung von 0,2 bis 0,4oC oder mehr führen.
  • Erlahmen des Golfstroms
    Dieser wird getrieben durch kaltes und salzhaltiges, damit dichteres, Wasser, das vor Grönland in die Tiefe absinkt. Diese "thermohaline" Pumpe saugt warmes Oberflächenwasser aus dem tropischen Atlantik in den Norden. Würde durch eine stärkere Eisschmelze der Salzgehalt sinken, könnte diese Pumpe zum Stillstand kommen. Man erwartet dies bei 4oC Temperaturerhöhung mit einer Prozessdauer von 50 Jahren. Eine Folge wäre unter anderem Monsunveränderungen - mit Verstärkungen und Abschwächungen - im atlantischen Raum und eine Abkühlung von Westeuropa. 
  • Versteppung des Amazonas-Regenwaldes
    Der größere Teil des Niederschlags wird durch Verdunstung aus dem Regenwald erzeugt, nur der kleinere Teil wird vom Passat geliefert. Der vom Wald selbst erzeugte Kreislauf fällt natürlich aus, wenn kein Wald mehr vorhanden ist. Die Rodung von Wald sowie die durch Temperaturerhöhung ausgeprägtere Trockenzeit können den regionalen Niederschlag soweit erniedrigen, dass die Bäume die Trockenphase nicht mehr überleben. Man erwartet dies bei 3,5oC - die laufenden Rodungen nicht eingerechnet - mit einer Prozessdauer von 100 Jahren. Das Amazonasbecken ist heute für rund ein Viertel des globalen Austauschs Sauerstoff / Kohlendioxid zwischen Atmosphäre und Biosphäre verantwortlich. Das freigesetzte CO2 würde die Temperatur um zusätzliche 0,1-0,2oC erhöhen (2).


Im Folgenden wird beispielhaft der Amazonas-Regenwald mit einigen Messdaten genauer beschrieben.

 
                                    Amazonasbecken mit Entwaldungsangaben
blau: Einzugsbereich des Amazonas; weiß: Grenze von Brasilien
weiß umrandetes Rechteck: Bereich 5-15 Grad Süd / 50-70 Grad West
weiße Kästen: brasilianische Bundesstaaten mit Angabe der Entwaldungsrate 2000-2020
Quelle der Originalkarte: Global Forest Watch 2022 (3)
 

Die Karte rechts zeigt das Amazonasbecken, das zu etwa zwei Dritteln in Brasilien liegt. Grün ist die Bewaldung dargestellt und rot der Waldverlust 2000-2020. Man erkennt, dass innerhalb von Brasilien im Südosten am meisten abgeholzt wurde. Sodann sind vier große Bundesstaaten gekennzeichnet. Die Prozentzahlen bedeuten die Abnahme von Primärregenwald in diesem Bundesstaat ebenfalls zwischen 2000 und 2020. Der Regenwaldverlust für Gesamtbrasilien im selben Zeitraum wird mit 8,1 % angegeben (3). Eine andere Quelle nennt 17,1 % Verlust an natürlich wachsendem Wald in Brasilien zwischen 1990 und 2020 (4). Der historische Gesamtverlust im Amazonasbecken wird auf knapp 20 % geschätzt. Der Verständnisgenauigkeit zuliebe sei erwähnt, dass die Gesamtwaldabnahme höher (wenn auch Sekundärwald verschwunden ist) und dass die Nettowaldabnahme niedriger (wenn anderswo Wald neu entstanden ist) sein kann. 

Die Regenzeit im Amazonasgebiet dauert etwa von Januar bis Mai/Juni, bedingt durch den dann starken Nordost-Monsun. Dessen Wasserführung könnte in dieser Jahreszeit durch die Meereserwärmung sogar zunehmen, wo also liegt das Problem für ein Kippelement durch Austrocknen?

Es gibt hierzu drei relevante Faktoren.

Erstens macht sich der Regenwald etwa drei Viertel des Regens selbst, indem in der heißen Tropensonne Feuchtigkeit von den Pflanzen abgegeben (transpiriert) wird, wodurch sich der Wald selbst kühlt. Die aufsteigende Feuchtigkeit kondensiert und fällt wieder als Regen. Durch den beständigen Wind aus etwa östlicher Richtung wird also Wasser landeinwärts transportiert.
Nur ein Viertel der Feuchtigkeit kommt vom Meer. Diese auf den ersten Blick überraschende Tatsache kann man überschlägig selbst nachrechnen: Der Amazonas führt im Jahr etwa 6600 Kubikkilometer Wasser. Schätzt man die Fläche des Amazonaseinzugsgebiets auf 7 Mio. Quadratkilometer, errechnet sich ein meereswasserbedingter Niederschlag von gut 900 mm pro Jahr. Dabei ist angenommen, dass genau diese Niederschlagsmenge auch wieder ins Meer abgeführt wird. In Wirklichkeit beträgt der Jahresniederschlag im Amazonasgebiet aber rund 3000 mm, also etwa dreimal so viel. 
Dieser selbsterzeugte Regenkreislauf funktioniert natürlich nur mit Waldbedeckung. Ohne nennenswerten Pflanzenwuchs würde jedes "Meeresregenwasser" ohne die hohe Speicherfähigkeit des Urwalds sofort versickern und direkt wieder abfließen, möglicherweise mit erhöhter Erosionswirkung. Entwaldung (egal aus welchem Grund) würde also den Niederschlag erheblich reduzieren.
Das Verhältnis von "Meeresfeuchtigkeit" zu "Waldfeuchtigkeit" in der Atmosphäre kann man messen, und zwar über den Deuteriumgehalt im Wasser. Deuterium (D) ist schwerer Wasserstoff (H); das Verhältnis H2O zu HDO ("halbschweres Wasser") beträgt im Durchschnitt etwa 7000:1. Da halbschweres Wasser aus dem Meer schlechter verdampft, enthält Meerwasser mehr, dagegen aus dem Meer aufgestiegener Wasserdampf weniger davon. Die Pflanzentranspiration kennt diesen Unterschied nicht. Daraus folgt, dass aus Landfläche (hier: Regenwald) verdunstetes Wasser mehr Deuterium enthält als die vom Monsun gebrachte Luftfeuchtigkeit.
In der Abbildung unten, linke Seite, ist das dargestellt. Die drei Kastenserien A-C stellen die letzten drei Monate der Trockenzeit (mit Übergangsperiode) dar, während D die Regenzeit abbildet. Links erkennt man vor allem, neben der stets grob östlichen Windrichtung, die höhere Luftfeuchtigkeit während der Übergangs- und Regenzeit. Spannend ist die rechte Spalte: In der Trockenzeit (Kasten A) dominiert Meereswasser-Feuchtigkeit (braune Farbe = deuteriumarm), d. h. der Wald verdunstet wenig. In der Übergangszeit setzt von Nordwesten nach Südosten - d. h. von der noch dichter bewaldeten in die schon stärker gerodete Zone - die Wald-Niederschlagserzeugung ein (blaugrüne Farbe = deuteriumreich). Kurz vor Einsetzen der Regenzeit stammt also der meiste Niederschlag aus dem Wald selbst, ausgelöst durch den höheren Sonnenstand und damit verbundene höhere Temperaturen. Erst in der Regenzeit (Kasten D) wird die Deuteriumbilanz wieder neutral - die Meeresfeuchtigkeit schafft die Reise über rund 3000 Kilometer ins Landesinnere. Es wird vermutet, dass die hohe (landbasiert erzeugte) Luftfeuchtigkeit Wochen vor der Regenzeit deren Einsetzen beschleunigt, da die Monsunfeuchtigkeit ja auf bereits feuchte Luft trifft.

 
            Trends des monatlichen maximalen Wasserdefizits (MWD)
   (a) Häufigkeit der jährlichen Trends des maximalen Wasserdefizits
   x-Achse: Zahl der Fälle; y-Achse: Millimeter Wassersäule
   blau: Trockenheit nimmt ab; rot: Trockenheit nimmt zu

   (b) Lokale Verteilung der gemessenen Plots. Farbgebung wie bei (a)
   (c) Verlauf des jährlichen maximalen Wasserdefizits über ca. 30 Jahre
   y-Achse: Milllimeter Wassersäule
   grau markiert: Auffällige Trockenzeiten 2005 und 2009
   weitere Erläuterungen im Text
   Quelle: Esquivel-Muelbert 2019 (7)


                  
                    Luftfeuchte und Deuteriumgehalt des Niederschlags
     Zeilen A-D: 3 Monate / 2 Monate / 1 Monat vor der Regenzeit / erste 3 Monate in der Regenzeit
     linke Spalte: blau: spezifische Feuchtigkeit in der Atmosphäre; Pfeile: Windrichtung
     rechte Spalte: Deuteriumgehalt in der Luftfeuchte; blaugrün: hoher Gehalt; braun: niedriger Gehalt
     weiß umrandeter Bereich: 5-15 Grad Süd / 50-70 Grad West
     Quelle: Wright 2017 (5)
     

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Der zweite Faktor ist die Relevanz der Trockenzeit.

Für die 30 Jahre zwischen 1980 und 2010 wurde gemessen, dass die Dauer der Trockenzeit um 6,5 Tage pro Dekade zugenommen hat, hauptsächlich verursacht durch ein verzögertes Ende, mit einer Verschiebung nach hinten um 4,5 Tage pro Dekade (6).
Auch der Grad der Trockenheit während der Trockenzeit hat zugenommen. Man kann dies z. B. durch das jährliche maximale Wasserdefizit (MWD) ausdrücken, siehe die Abbildung oben rechts (7). Dazu wird monatlich die Differenz zwischen Niederschlag und Verdunstungsmenge berechnet. Ist sie negativ, herrscht Trockenzeit; es fließt netto kein Wasser ab, sondern der Boden wird trockener (8). Aufeinander folgende trockene Monate werden kumuliert. Im Amazonasbecken beträgt das MWD typischerweise zwischen 100 und 200 mm Wassersäule (siehe Grafik (c) der rechten Abbildung). Das bedeutet, dass sich im "trockensten" Monat der Trockenzeit ein Defizit dieser Höhe aufgebaut hat.   
Zum Vergleich, dies wäre etwa so, als wenn es in Deutschland im Sommer zweieinhalb bis fünf Monate überhaupt nicht regnen würde (9). Der Regenwald übersteht diese Trockenzeit nur, weil er - bisher - genügend hohe Wasserreserven in der Biomasse und im Erdboden hat.
Das maximale Wasserdefizit im Amazonasbecken hat in den vergangenen 30 Jahren um jährlich 1,1 mm zugenommen (siehe Grafik (a) der rechten Abbildung). Auf den über diesen Zeitraum beobachteten Plots wurde auch der Baumbestand analysiert und festgestellt, das neu nachwachsende Bäume vorzugsweise trockenheitsresistentere Arten waren (7). Der Wald in seiner Zusammensetzung hat also bereits auf den Klimawandel zu reagieren begonnen.

Der dritte Faktor ist die Menge des jährlichen Niederschlags.

Der IPCC-Sachstandsbericht 2021 fasste den Stand des Wissens unter anderem zu den Prognosen zur globalen Änderung von Wetterphänomenen in Abhängigkeit vom Klimawandel zusammen und behandelte auch die diversen Monsungebiete. Für das nördliche Südamerika wird erwartet, dass der Niederschlag im Großteil des Amazonasbeckens bei einer Temperatursteigerung um 4oC um 10-20 % zurückgeht, wobei die Trockenzeit trockener (und länger) wird, während möglicherweise die Regenzeit sogar nässer werden könnte (10).
Eine Grafik, die die globale Änderung der Niederschlagsverteilung und der Bodenfeuchtigkeit zeigt, finden Sie hier. Man kann ablesen, dass das nördliche Südamerika trockener wird.

 
                                          Feuer in Amazonien 15.-22.8.2019
weiß umrandeter Bereich: 5-15 Grad Süd / 50-70 Grad West (nachträglich ergänzt)
Quelle: Faszination Regenwald 2022 (11)

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Trockenzeit bereits in der Vergangenheit länger und trockener wurde, und dass dieser Trend sich mit dem Klimawandel weiter verstärken wird. Zudem benötigt der Regenwald sich selbst, um drei Viertel der Niederschläge zu erzeugen.
Die Kippelement-Hypothese lautet nun einfach, dass bei einem bestimmten Entwaldungsgrad oder durch Überschreitung einer Temperaturschwelle dieser landgebundene Regenerzeugungskreislauf erlahmt und damit ein trockenheitsbedingtes Absterben des restlichen Waldes irreversibel beschleunigt wird, selbst wenn dann die Temperatur nicht mehr stiege und die weitere Entwaldung völlig gestoppt würde.
Die Entwaldung durch Rodung verschiebt den Kipppunkt nach vorn und beschleunigt den Prozess, da sie den Niederschlag reduziert.



 

Quellenangaben und Anmerkungen
(1) "Kippelemente - Großrisiken im Erdsystem", Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), 2022. Die Darstellung des PIK referiert aus:
Armstrong McKay et al. "Exceeding 1.5°C global warming could trigger multiple climate tipping points", Science 377 (6611), 2022.
(2) M. Hirota, C. Nobre et al., "Science Panel for the Amazon - A call for global action to move the amazon forest system away from tipping points", ResearchGate, 2022
(3) Global Forest Watch, abgerufen 12/2022
(4) FAO (Food and Agricultural Organization of the United Nations), Global Forest Resources Assessments (FRA), FRA 2020 Results, Country Reports, Brazil. Dort wird für "Naturally regenerating forest" (im Gegensatz zu Plantagen) angegeben: 1990 585 Mio. ha / 2020 485 Mio. ha.
(5) J. Wright et al. "Rainforest-initiated wet season onset over the southern Amazon", PNAS 114 (32): 8481-6, 2017
(6) Rong Fu et al. "Increased dry-season length over southern Amazonia in recent decades and its implication for future climate projection", PNAS 110 (45), 2013
(7) A. Esquivel-Muelbert et al. "Compositional response of Amazon forests to climate change", Global Change Biology, Vol. 25, 2019 
(8) Hat ein Gebiet im Jahresdurchschnitt ein Wasserdefizit, etwa in der Wüste, nennt man dies "arides Klima". In solchen Gebieten können keine ganzjährig wasserführenden Flüsse exisitieren.
(9) In Deutschland beträgt im Durchschnitt der Niederschlag 790 mm pro Jahr und die Evapotranspiration (Summe der Verdunstung [Evaporation] vom Boden und der Transpiration von Pflanzen) 490 mm pro Jahr. Die Differenz von 300 mm pro Jahr ist der Abfluss. Ein Monat ohne Regen entspricht also etwa 40 mm Wasserdefizit aus der Bodenoberfläche inklusive Bewuchs. 
(10) Die theoretische Datenlage zur Jahresgesamtbilanz des Niederschlags wird im Bericht als unsicher bezeichnet. Die Vertiefung der Trockenzeit ist sicherer belegt.
(11) Faszination Regenwald, abgerufen 12/2022. Angegebene Quelle dort: NASA https://www.visibleearth.nasa.gov/