_ "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

__ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

Welche tieferliegenden Ursachen liegen den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden der Inselentwicklungen zugrunde?
 

 

Allgemeine Prinzipien

In Polynesien hat der Mensch in den vergangenen Jahrzehntausenden hunderte von Inseln besiedelt, die er mehr oder weniger isoliert erlebte. Die ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf jeder dieser Inseln verliefen teilweise ähnlich, teilweise unterschiedlich.
Welche unterliegenden Prinzipien, Vergleichs- und Unterscheidungsmerkmale lassen sich zusammenfassen?

1. Ökologische Startsituation
Die Inseln unterscheiden sich in Größe, geologischer Struktur ("hohe Inseln", Makatea, Atoll), damit in Boden und Wasserführung, sowie klimatisch (Temperatur, Niederschlag, Wind). Östlichere, entlegenere und kleinere Inseln haben eine geringere Biodiversität (evolutionärer "Inseleffekt").

2. Erreichbarkeit
Die Inseldichte nimmt im Pazifik von West nach Ost ab, und ein weiter Bereich liegt unter dem Einfluss des Südostpassates. Damit waren die Aufgaben bezüglich Reiseentfernung, Navigation und Segeltechnologie im Schwierigkeitsgrad von West nach Ost geordnet. Dies bestimmte die Hauptbesiedelungsrichtung.

3. Verbrauch von Ökosystem-Ressourcen
In allen bekannten Fällen wurden Großtiere bis zur Ausrottung bejagt, selbst auf großen Landflächen wie Neuguinea oder Neuseeland. Ebenso wurden Land- und Seevögel bis zur Dezimierung oder Ausrottung bejagt, eine nachhaltige Jagdbewirtschaftung ist nirgends bekannt.
Einheimische Flora - untersucht wurde vor allem Wald - wurde in einigen Fällen bis zum Verschwinden verbraucht, als Brennholz, Bauholz, durch Brandrodungsfeldbau oder als Jagdhilfe. Die extremsten Beispiele sind Mangareva und die Osterinsel. Teilweise wurde Naturwald durch Baumwirtschaft ersetzt (Tikopia).
Es wäre Spekulation, zu hinterfragen, ob die Wirkung von Erosion je erkannt worden wäre.

4. "Transport von Landschaften"

Neben der Jagd kannten die Pazifikbesiedler schon vor der Lapitakultur den Ackerbau. Die Siedler "transportierten ihre Landschaften" durch Mitnahme von Nutztieren und -pflanzen (und weiteren anthropophilen Biota, die sich teilweise als Schädlinge, heute würde man sagen "invasive Arten", herausstellten).
Im kulturellen Verlauf wurde die Landwirtschaft auf größeren Inseln typischerweise intensiviert (Ausnahme Süd-Neuseeland), d. h. der Ertrag pro Hektar stieg.

 
                mögliche demographische Szenarien
N Population; t Zeit; K maximale Kapazität
Quelle: Kirch 2000 (1)
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5. Bevölkerungswachstum
Man nimmt an, dass durch die Abwesenheit von Malaria und evtl. weiterer Tropenkrankheiten östlich von Solomon und Vanuatu, d. h. u. a.  im gesamten polynesischen Raum, die Begrenzung der Bevölkerung im Wesentlichen durch das Nahrungsangebot gegeben war, mit einer "natürlichen" Verdoppelungsrate in bis zu unter 100 Jahren (Hawai'i).
Die Grenze der Nahrungsgewinnungskapazität (zum größten Teil Landwirtschafts-Kapazität) konnte sich durch technologische Fortschritte (z. B. Bewässerung) nach oben schieben, durch zu Ende Gehen ausgebeuteter Ressourcen (s. 3) oder durch kurzfristige exogene Effekte (z. B. Perioden von Trockenheit) aber auch nach unten bewegen.
In einigen Fällen wurde die Grenze der landwirtschaftlichen Kapazität durch ein "logistisches Wachstum" gleitend erreicht (Hawai'i), in anderen Fällen trat ein Blaseneffekt mit folgendem Bevölkerungseinbruch ein (Mangaia, Osterinsel). In noch anderen Fällen vermutet man ein deutliches Oszillieren um den dauerhaften Maximalwert (Tikopia). Auf kleinen und für die menschliche Ernährung wenig geeigneten Inseln kam es auch vor, dass die Bevölkerung wieder ausstarb, z. B. durch den ausbleibenden Austausch mit Nachbarn (Pitcairn, Henderson).  Die Abb. rechts zeigt einige typischen Bevölkerungskurven.

6. Bevölkerungskontrolle

Bei diesbezüglichen Aussagen ist man weitgehend auf ethnographische Untersuchungen angewiesen. Zölibat, Verhütung, Abtreibung, Kindermord und Vertreibung werden genannt (Tikopia).

7. Kriegerische Handlungen
Hierzu ist die Datenlage erheblich einfacher, da archäologische Funde von Befestigungsanlagen, Schutzhöhlen, Waffen, aber auch Menschenknochen im entsprechenden Kontext (Lage, Alter der Toten, Waffeneinwirkung, Bearbeitung der Knochen, Verkohlungsgrad) auf Kriegshandlungen, Menschenopfer oder Kannibalismus hinweisen können.
Die Befunde legen nahe, dass größere Gesellschaften immer zu kriegerischen Mitteln griffen,wenn die Nahrungsmittel-Kapazität erreicht zu werden drohte. Häufig war dies auch schon vorher der Fall. Das größte einigermaßen gut untersuchte Gegenbeispiel ist Tikopia mit etwa 1500 Einwohnern, die möglicherweise mit "friedlicher" Bevölkerungskontrolle (s. 6) auskamen (die Ausrottung ihrer Schweine könnte auf eine konsensuale Handlungsfähigkeit dieser Gesellschaft deuten).  

8. Politische Organisation
Größere und hierarchisch stärker gegliederte politische Einheiten bildeten sich regelmäßig auf großen und gleichzeitig dicht besiedelten Inseln. Voraussetzung für eine arbeitsintensive Material-Kultur (z. B. Steinstrukturen) war natürlich die Erwirtschaftung eines Nahrungsmittelüberschusses. War dieser nicht mehr gewährleistet, brach das politische System entweder zusammen (Henderson, Osterinsel), oder auch nicht (Marquesas) (1).

Jeder Fall, jede Insel hat sich anders entwickelt, trotz oder eben auf Basis der oben dargelegten allgemeinen Prinzipien.
Die Osterinsel ist nicht umsonst als pazifisches Beispiel wohl am bekanntesten. Sie vereint einen ungewöhnlichen 500-jährigen Frieden mit einer genauso lange dauernden kulturellen Hochleistung, eine im Nachhinein betrachtet selbstzerstörerische Vernichtung ihrer Naturressource "Wald" (wodurch Hochseefischfang, Statuenbau und Brennholzgewinnung unwiderbringlich zu Ende waren), einen Bevölkerungs-Crash mit kriegerischer Zerstörung des gesellschaftlichen und politischen Systems und die Entwicklung eines neuen Glaubens, des Vogelmenschenkultes - fast schon tragisch anmutend die Sehnsucht nach der Rauchseeschwalbe: Verlorener Nahrungsüberfluss vergangener Tage, ein Seevogel, der die Beschränkung ihrer Heimat jederzeit verlassen konnte.   
   
Die Bevölkerungsentwicklung der "Insel Erde" zeigen die Abbildungen unten. Wie wird deren künftige Entwicklung aussehen, und welche Begleitszenarien werden damit verbunden sein?



   
  globale Bevölkerungsentwicklung der vergangenen 3000 Jahre
Quelle: Wikipedia (2)
     globale Bevölkerungsentwicklung ab 1950 mit Prognosen 2010-2050
  Quelle: bpb 2010 (3)

 

 

Quellenangaben
(1) Absätze 1-8 frei nach: P. Kirch, "On the Road of the Winds - An Archaeological History of the Pacific Islands before European Contact" (Berkeley: University of California Press, 2000)
(2) Wikipedia "Weltbevölkerung", abgerufen 26.1.15
(3) Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) 2010, dort: UN / DESA World Population Prospects: The 2008 Revision



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