_ "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

__ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

Worin liegen die Risiken einer beschleunigten "ungerichtete-Trend-" Entwicklung der Informationstechnologie?
Zivilisation 2.0 auf dem Weg zum Parasitismus Maschine-Mensch?

 

4. Risiken einer Zivilisation 2.0
 

Welche Gefahren birgt eine Informationstechnologie, die sich in Entwicklungsgeschwindigkeit und Wirkungstiefe an die Spitze einer sich selbst beschleunigenden allgemeinen Technologieentwicklung gestellt hat, insbesondere wenn ein ungerichteter Trend vorliegen sollte?


Kriminalität

Illegale Aktivitäten werden nicht wirkungsvoll bekämpft, wie etwa die Verbreitung verbotener Inhalte (Pornographie, Gewaltverherrlichung, Rassismus) oder der Internetbetrug. So wurden z. B. im privaten Sektor in Deutschland 2009 10 Mio. Euro Schaden gemeldet, in USA 2008 550 Mio. Dollar Schaden bei über 300 000 geschädigten Personen.
Wirtschaftliche und wissenschaftliche Informationen werden ausspioniert, in funktionale Computersysteme kann eingedrungen werden, wie z. B. in das der amerikanischen Luftverkehrskontrolle.
Eine Steigerung hat die Wirksamkeit der kriminellen Werkzeuge mit "Stuxnet" erreicht, einem Computerwurm, der über USB-Sticks übertragen wurde, und der sich über lokale Netzwerke in  Prozesssteuerungen von Industrieanlagen vorarbeitete, um dort Schadbefehle auszuführen. So war nach Presseberichten das iranische Kernkraftwerk betroffen (Stand Sep. 2010). Siehe: Digitaler Erstschlag.
Mehr zur Beurteilung der aktuellen Bedrohungslage: Unternehmen und Staaten im Cyberkrieg

Kommentar: Wenn Cyberwaffen die Mächtigkeit erlangen, militärische Systeme zu blockieren oder zu steuern, für größere Menschenmengen relevante Sicherheits- oder Kontrollsysteme zu sabotieren oder Industrieanlagen zu zerstören, besteht das Risiko, dass sie ein Gefahrenpotenzial analog den Kernwaffen oder biologischen Waffen erreichen.


Vernetzung

Soziale Netzwerke wachsen mit grob geschätzt 30 % pro Jahr. Facebook, mit etwa 500 Mio. Nutzern weltweit, führte 2010 die GPS-Ortung über das Handy des Nutzers ein. Damit können persönliche Daten "verortet" werden, wie z. B. Restaurants, Geschäfte, aber auch private Treffen. Der Google-Vorstandschef E. Schmidt sah darin den "zentralen Monetarisierungsansatz für soziale Netzwerke", sprich für lokale und personalisierte Werbung im Internet. → Mehr
Online-Bilderdienste entfalten eine vergleichbare Vernetzungswirkung. Flickr z.B., 2004 gegründet, 2010 40 Mio Nutzer mit 5 Mrd. Bildern im Netz, bietet eine personalisierte Seite sowie Tagging und Geo-Tagging der Fotos. → Mehr
Für nichtöffentliche Daten scheint sich ebenfalls ein Sprung im Vernetzungsgrad anzukündigen: "Cloud-Computing". Damit ist das Verlagern der Rechenleistung von lokalen Computern und Netzwerkrechnern, beispielsweise von Firmen, auf Server via Internet gemeint. Für Deutschland wurde eine Umsatzsteigerung von über einer Mrd. Euro (2010) auf acht Mrd. Euro im Jahr 2015 prognostiziert, ein Wachstum von knapp 50 % pro Jahr. → Mehr
Die Vernetzung macht auch vor dem Arbeitsmarkt nicht halt: "Crowdsourcing" bezeichnet das Vergeben von Aufträgen an virtuelle Teams im Netz. Der Kunde sucht sich die beste Lösung aus und bezahlt nur diese. So gibt es z. B. in Deutschland eine Designfirma mit über 10 000 frei schaffenden Mitgliedern, in USA einen Softwarentwickler mit knapp 270 000 Teilnehmern. Die online-Enzyklopädie Wikipedia gilt als Beispiel für ein - allerdings nichtkommerzielles - Crowdsourcing-Projekt. Gegner kritisieren das Konzept als Ausbeutung. → Mehr

 

Schutz personenbezogener Daten

Aufgrund des Technologiestandes generiert jeder  heutzutage eine Unmenge elektronischer Daten: Telefonie (Festnetz, Handy, Internet), e-mail, Einträge in soziale Netzwerke (mit Blogs, Bildern, Filmen), über GPS die Verortung, Kreditkartenbuchungen, Internetkäufe, Stichwortvorlieben in Suchmaschinen usw. Deren Öffentlichkeit und legale Verwertbarkeit sind nicht immer klar geregelt. Jeder Arbeitgeber kann beispielsweise im Internet nach Einträgen eines Bewerbers suchen, aber darf er sie verwerten?
               Bei dem Projekt von "Google Steetview", in dem Häuserfronten optisch online gestellt werden sollen, wurde in Deutschland Einzelpersonen "auf internationaler Verhandlungsbasis"  Einspruchrecht eingeräumt, aber kein prinzipielles Verbot erteilt. Die Rechtslage gibt die Freiheit auf "Panoramabilder", untersagt jedoch die Verknüpfung der Hausporträts mit deren Adresse und Bewohnern (welche "natürlich" nicht beabsichtigt sei).
"Google Analytics", ein Programm, das Website-Betreibern die Möglichkeit gibt, persönliche Nutzerdaten statistisch auszuwerten und - über die IP-Adresse des Nutzers - auch eindeutig zuzuordnen, befand sich Sep. 2010 bei den deutschen Aufsichtsbehörden in Bearbeitung und "Verhandlung". → Mehr

 

Personalisierte Werbung

Das soziale Netzwerk Facebook gründete eine Allianz mit Bing, der Suchmaschine von Microsoft. Die Suchmaschine soll Einträge ("Empfehlungen") von Netzwerk-Freunden beispielsweise bei der Restaurantsuche liefern. → Mehr
Der Kurznachrichtendienst Twitter startete ein Projekt mit den Suchmaschinen von Google und Microsoft: Letztere zeigen Meldungen von Twitter, welches wiederum Werbungsvorlieben aus den Suchmaschinen aufnimmt und in Kurzmeldungen umsetzt. Dahinter steht das Firmenziel von Twitter, die Einnahmen durch Erhöhung des Werbe-Anteils zu erhöhen. → Mehr 

Kommentar: Die Vernetzung an sich erhöht das Risiko des illegalen Missbrauchs, wobei erschwerend hinzukommt, dass aufgrund der hohen Innovationsgeschwindigkeit die politisch-öffentliche Wertbildung und die daraus folgende Aktualisierung der Gesetzeslage nicht mehr Schritt hält.
Für den Nutzer, den Endverbraucher, d. h. die bürgerliche Allgemeinheit, besteht das Risiko, dass die immer weiter perfektionierte Verwertung persönlicher Daten - unbeschadet des theoretischen oder realen Rechtsstatus - zu einem Manipulationsgrad führt, der sichtbar (Werbung) oder unsichtbar (Bank nimmt Blog-Einträge oder Wohnlage eines Kreditsuchenden als Entscheidungsgrundlage für Kreditvergabe), nicht mehr durchschaubar ist.
In der Nomenklatur der Evolution hieße das, dass sich die Symbiose Mensch-Technik in Richtung Parasitismus entwickeln würde, d. h. der Nutzen verschöbe sich einseitig zur technischen, d. h. der Konsumgüter-Welt.

2010 wurden (Hochschätzung) weltweit ca. 350 Mrd. Dollar für Werbung ausgegeben, davon etwa 17 % für die Onlinewerbung (Steigerung gegen Vorjahr um 13 %), davon wiederum stieg der Anteil für soziale Medien um 30 % gegen Vorjahr. Der Welt-Werbeetat entspricht ca. 0,6 % des Welt-Bruttoinlandsproduktes, Tendenz steigend.
Der US-amerikanische Informatiker Jaron Lanier beschrieb in seinem Buch "You are not a Gadget" (2010) die Problematik des Internet kritisch, er schilderte "die Gefahren, die von einem Internet ausgehen können, das als frei und offen idealisiert wird, aber Kräften unterliegt, die von ideologischen, technologischen und ökonomischen Motiven getrieben sind"  und benutzte dabei Begriffe wie "digitaler Maoismus" oder "kybernetischer Totalitarismus". Siehe auch: Buchbesprechung der FAZ


Sucht

Der japanische Hersteller von Multiuser-Rollenspielen DeNa kaufte 2010 eine amerikanische Firma, die solche Spiele für das Handy iPhone entwickelt, für 400 Mio Dollar. → Mehr
Das Spiel "World of Warcraft", 2004 veröffentlicht, zählte 2010 mehr als 12 Mio. Abonnenten und machte einen Umsatz von über einer Mrd. Dollar. Verschiedene Faktoren, darunter die virtuelle Gewaltanwendung, die virtuelle Selbstbestätigung und die Belohnungs- und Aufstiegssysteme, geben diesem, wie anderen Spielen, ein Suchtpotenzial.
Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen führte hierzu 2007/2008 eine Befragung von etwa 45 000 SchülerInnen im Alter von 15 Jahren durch. 4,3 % der Mädchen und 15,8 % der Jungen wurden mit Computerspielzeiten von über viereinhalb Stunden pro Tag als suchtgefährdet oder abhängig eingestuft.
Die untenstehende Graphik zeigt durchschnittliche Fernsehzeiten von knapp dreieinhalb Stunden pro Tag, sowie als nächsthäufige Aktivität - für Jungen - Computerspiele mit etwas unter zweieinhalb Stunden täglich.

 

Die folgende Tabelle aus derselben Quelle zeigt den negativen Einfluss der täglichen Spieldauer auf Schulnoten, Schulabwesenheiten und gesundheitliche und soziale Faktoren.

Kommentar: Das Wesen jeder Sucht liegt definitionsgemäß im Entzug der freien Willensentscheidung. Was beim Rauchen die Gefährdung durch Lungenkrebs, oder beim exzessiven Trinken die Gefährdung eines Leberschadens, ist beim unkontrollierten Internetgebrauch im weitesten Sinn eine Schwächung der sozialen und geistigen Entwicklung bzw. Fähigkeiten.
Das Risiko der sich beschleunigenden IT-Entwicklung besteht darin, dass diese Schadwirkungen von der sozialen Gemeinschaft, den Bildungssystemen, den Familien, dem Einzelnen nicht mehr in Echtzeit identifiziert und abgewehrt werden können, sofern die diesbezüglichen gesellschaftlichen und politischen Lernprozesse dieser Geschwindigkeit nicht mehr folgen - Fortschritt außer Kontrolle.

Details können in der Originalveröffentlichung nachgelesen werden:  KFN - Computerspielabhängigkeit

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