_ "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

__ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

Evolution als mathematisches Modell - anwendbar für Biologie, Technologie, Informationsverarbeitung

 

1. Der Evolutionsbegriff - eine Definition
 

Der Begriff "Evolution" kann mit einem ganz einfachen Modell definiert werden, nämlich dem wiederholten Ablauf der Folge

  • Reproduktion
  • Mutation
  • Selektion.

 

Die folgende Abbildung veranschaulicht dies:

Quelle: Olsberg, "Schöpfung außer Kontrolle", 2010
 

D. h. immer wenn eine Spezies vervielfältigt wird, die Kopien Veränderungen erfahren, und nur eine Auswahl hiervon wieder in die Vervielfältigung geht, nennt man diesen Prozess Evolution. Über die Mechanismen der drei Schritte Reproduktion - Mutation - Selektion ist hierbei nichts gesagt, sie sind nicht Teil der Begriffsabgrenzung.

Diese vertraut und einleuchtend wirkende simple Definition hat zwei nicht direkt ins Auge springende Konsequenzen:
1. Der gewohnte Zusammenhang mit dem Begriff "Leben" ist aufgehoben.
2. Eine wie auch immer geartete Zielrichtung ist nicht Grundbestandteil des Modells. Die Entwicklungen hängen im Einzelfall von den Mechanismen der drei Kreisschritte ab, die statistischen oder auch anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegen mögen, was noch Teil der Diskussion sein wird.
 

Dazu einige Beispiele
 

1. Die unbekannten Ursuppenmoleküle,

die als erstes eine Kopierfähigkeit aufwiesen. Möglicherweise waren dies bereits chemische Verbindungen der sechs einfachen organischen Moleküle Adenin, Thymin, Guanin, Cytosin, Desoxyribose und Phosphat, die heute die alleinige Basis für die Desoxyribonucleinsäure (DNA) bilden, Träger der Gene.
Auf der Erde dauerte deren Entwicklung weniger als 200 Mio. Jahre. Wenn man grob vereinfachend "Reaktionschancen" von Molekülen gleichsetzt mit der Stoßhäufigkeit von Wassermolekülen, und eine ein Meter dicke Wasserschicht ins Kalkül zieht (ob die betreffenden Reaktionen im freien Wasser oder am Grund, z. B. an unterseeischen Schloten, stattgefunden haben, ist umstritten), erhält man in dieser Zeit 10 hoch 59 Kontakte. Um ein Gefühl für diese riesige Zahl zu bekommen: Wenn dieselben Moleküle mit derselben Frequenz Lotto (6 aus 49) spielen würden, würde ein einziger Kubikmeter in einer einzigen Sekunde 10 hoch 22 mal den Hauptgewinn erzielen.

- Langer Rede kurzer Sinn, man geht davon aus, dass die Mutation, die Selektion und die Reproduktion in dieser Vorphase hinreichend über chemisch-thermodynamisch-statistische Prozesse erklärbar seien.

2. Die Bedecktsamer in Symbiose mit bestäubenden Insekten

An diesem Beispiel soll der Begriff der Symbiose eingeführt werden. Das Wort - aus dem Griechischen - bedeutet "Zusammenleben", und klassischerweise werden damit Organismen bezeichnet, die für ihre Fortpflanzung aufeinander angewiesen sind. Die Abgrenzung zum Parasitismus und zur Jäger-Beute-Beziehung ist nicht immer eindeutig (so wird das Hasenindividuum den schlagenden Fuchs nicht unbedingt als Symbiosepartner betrachten, für die Hasenpopulation kann die Jagd aber stabilisierenden und selektierenden Einfluss haben).
Bedecktsamer (Blütenpflanzen) entwickelten sich ca. 100 Mio. Jahre nach den Nacktsamern (Windbestäuber) vor 150 Mio Jahren in der Kreidezeit. In der davorliegenden Periode des Jura dienten die Nacksamer mit ca. 100 000 Arten noch als bevorzugtes Dinosaurierfutter, heute gibt es nur noch etwa 500 Arten, dagegen 300 000 Arten der Blütenpflanzen.
Der evolutionäre Vorteil der Blütenpflanzen lag offenbar in der Methode der Fortpflanzung, die sich laufend optimierte. Um das Beispiel zu vereinfachen, die Blüten optimierten das Anlocken der Bienen, die Bienen optimierten das Auffinden von Blüten.

  • Ein Reproduktionsschritt (der Pflanze) wird durch ein anderes Lebewesen durchgeführt.
  • Die Mutation läuft nach den üblichen biologischen Mechanismen (Meiose = Austausch der zweigeschlechtlichen Erbinformation, sowie biochemische Kopierfehler).
  • Die Selektion erfolgt jeweils durch den Symbiosepartner.
  • Beide Partner beeinflussen jeweils das Verhalten des anderen.

 

3. Die Viren

Viren besitzen keinen eigenen Stoffwechsel und gelten deshalb nicht als Lebewesen. Sie besitzen mindestens eine RNA oder DNA, und eventuell eine Zellhülle.

  • Die Reproduktion wird durch ein Lebewesen durchgeführt (durch Kopieren des Virengenoms).
  • Die Mutation erfolgt durch biochemische Kopierfehler, teilweise ist eine Kopierungenauigkeit durch das Virus selbst induziert, teilweise können unterschiedliche Viren in derselben Wirtszelle rekombinieren.
  • Die Selektion erfolgt über den Ausbreitungsmodus mit Hilfe des Wirtes (Tröpfchenübertragung, Blutübertragung usw.). Viren, die ihre Wirte vor Ausbreitung töten, sind nicht erfolgreich. Seit der Epoche der menschlichen Zivilisation erfolgt die Selektion auch über zivilisatorische Faktoren, wie z. B. die Verbreitung der Vogelgrippe durch Massentierhaltung und Flugverkehr, oder die Verbreitung von Aids durch die Verwendung infizierter Rauschgiftspritzen.
  • Beide Kontrahenten (Viren und Träger) beeinflussen sich gegenseitig (der Träger kann, biologisch, eine Resistenz entwickeln, oder, zivilisatorisch, Abwehrmaßnahmen wie z. B. Impfungen entwickeln, oder auch B-Waffen).

 

4. Sprachen

Die menschliche Sprache könnte sich - hypothetisch - mit dem Auftreten des Homo Sapiens gebildet haben, also grob vor 100 000 Jahren. Heute gibt es, je nach Zählung, ca. 6000 verschiedene Sprachen aus 20 Sprachfamilien. Die verbreitetste ist Mandarin-Chinesisch mit ca. 900 Mio. muttersprachlichen Nutzern, die kleinsten Sprachgruppen, z. B. in Neuguinea und im pazifischen Raum, umfassen bis zu 1000 Menschen. Englisch wird von 300 Mio. Muttersprachlern und 500 Mio. Fremdsprachlern gesprochen.

  • Die Reproduktion erfolgt klassisch über die mündliche Überlieferung (Nachahmung). Die Verbreitung folgt stark den Wanderbewegungen der Sprachgruppen (z. B. Völkerwanderung in der Spätantike in Europa) wie auch den Machtverhältnissen (z. B. Ausbreitung des Lateinischen in Süd- und Zentraleuropa des Römischen Reiches in der Antike, Ausbreitung des Mandarin im Chinesischen Reich). Seit der Erfindung der Schrift erfolgt die Weiterverbreitung auch über diese. So hat z. B. möglicherweise das Hebräische die Hellenisierung der Juden in der Spätantike nur überlebt, da es als Schriftsprache der Religion diente; Luther prägte mit seiner Bibelübersetzung aus dem Griechischen, die er 1522 in nur 11 Wochen verfasste, die deutsche Sprache für Jahrhunderte. Die erste Auflage seiner Bibel von 3000 Stück war innerhalb von drei Monaten ausverkauft und diente lange als Schulbuch.
  • Die Mutation erfolgt durch kulturelle / zivilisatorische Veränderungen und durch Vermischung mit fremden Sprachen. So ergab, vereinfacht gesprochen, keltisch plus lateinisch das Französisch. Die Übernahme von Lehnwörtern ist ein anderes Beispiel (Auto = Automobil aus lateinisch "sich selbst bewegend", Portemonnaie aus französisch "Trage Geld", Handy aus dem englischen, oder Blog = Weblog, eine Misch-Abkürzung aus dem englischen World Wide Web und dem deutschen Logbuch, wobei Log wiederum ein veraltendes Wort für das Holzstück ist, das Segler in der frühen Neuzeit über Bord warfen, um ihre relative Geschwindigkeit zu bestimmen). Auch Luther war ein erfolgreicher Mutierer, er erfand z. B. Begriffe wie "Gewissensbiss", "Lockvogel" oder "Auf Sand bauen".
  • Die Selektion erfolgt über die Vorlieben der Nutzer (Sprecher, Journalisten, Autoren, Internet).
  • Allen drei Evolutionsstufen ist gemeinsam, dass sie im einzelnen Fall immer über das Großhirn von Lebewesen (dem Menschen) laufen, wobei der zivilisatorische Kontext (Größe des Volkes, politische Machtverhältnisse [z. B. Römisches Reich, Großbritannien mit Commonwealth, USA heute, China]) eine wesentliche Rolle spielt, und die vorhandenen Technologien (Schrift, Buchdruck, Internet) beschleunigend auf die Reproduktion wirken. Eine wie auch immer gerichtete Zielabsicht ist kein wesentlicher Bestandteil der Sprachentwicklung; die deutsche Rechtschreibreform von 1996 ist dafür ein gutes Beispiel.

 

5. Wein, Kuchen, Zigaretten, Kleider, Autos, Waffen

Diese Begriffe stehen für Produkte der Zivilisation.
Die Vorläufer der wilden Weinrebe entstanden in der "biologischen" Evolution vor ca. 80 Mio. Jahren. Seit ca. 5000 v. Chr. wurde die Mutation durch menschliche Züchtung dramatisch beschleunigt, heute gibt es etwa 10 000 Kultur-Rebsorten. Die wilde Weinrebe ist vom Aussterben bedroht. Die Selektion erfolgt durch den Markt, nach geschmacklicher Qualität, Preis, Werbung und regionalen Gebräuchen. Die Reproduktion wird durch den Menschen organisiert (die heutige Anbaufläche beträgt über 70 000 Quadratkilometer).
Die "Gene" von Kuchen oder Zigaretten, wie von Kleidern oder Autos, sind die Kochrezepte bzw. die Herstellvorschriften. Die Entwicklung (Mutation) erfolgt üblicherweise mit Hinblick auf den Markt (z. B. süßer oder gesünder, haltbarer oder billiger für den Kuchen, status-, preis-, verbrauchs- oder sicherheitsorientiert für das Auto, modisch für die Kleidung), die Reproduktion findet typischerweise in Fabriken statt, die Selektion durch die Kunden.

  • Dies sind Fälle von Symbiose: Die jeweils aktuell vorhandene Produktvielfalt beeinflusst das Verhalten des Menschen als Käufer, der Mensch als Entwickler verändert wiederum die Produktvielfalt.
  • Sind die Mutationen = Entwicklungen zivilisatorischer Produkte zielgerichtet? Eine vom Standpunkt des Menschen aus definierte Zielrichtung in kultureller, ethischer oder sonstwie allgemein formulierbarer Sicht dürfte schwer zu finden sein - aus dem elektrischen Strom wurde die Glühbirne und der elektrische Stuhl, aus der Bakteriologie die Impfung und die B-Waffe, aus der Kernspaltung das Atomkraftwerk und die Atombombe. Was entwickelt werden kann, wird entwickelt.

 

Die drei Graphiken, die von unten nach oben und von rechts nach links zu lesen sind, zeigen das Größenspektrum der verschiedenen Arten von Foraminiferen, das sind im Meer lebende Einzeller, die ein Kalkskelett bilden (und deshalb paläontologisch leicht nachzuweisen sind).
Sie sind auch deshalb interessante Modellobjekte, da sie, nach ihrem ersten Entstehen vor ca. 130 Mio. Jahren (unterste Graphik) zweimal beinahe ausstarben und quasi wieder von vorn anfingen (vor ca. 68 Mio. Jahren - mittlere Graphik, und vor ca. 36 Mio. Jahren - obere Graphik), und sich deren Evolution somit dreimal ereignete. In allen drei Fällen erkennt man, dass sich zwar ihre mittlere Größe von einem offenbar vorhandenen Minimum (0,1-0,2 mm Durchmesser) stetig erhöhte, dass jedoch die volle Spanne des Minimaldurchmessers bis zum jeweilig evolutionär erreichten Maximum erhalten blieb. Dies wird als sogenannter passiver Trend bezeichnet, oder "Weg des Betrunkenen".

Am Beispiel der Entwicklung der Waffentechnik soll dies für ein zivilisatorisches Produkt veranschaulicht werden:
Die "Wand der geringsten Komplexität" wird gebildet vom Faustkeil und vom Prügel, die wohl als erstes erfunden wurden, von Homo Erectus vor ca. 2 Mio. Jahren. Diese existieren in geringfügig modifizierter Form als Schlagring oder Schlagstock noch heute, wohingegen die Wand der höchsten Komplexität sich bis zum heutigen Tag stets nach oben verschob. Evolutionstheoretisch ein ungerichteter Trend!

Der Evolutionsbiologe würde dies wiederum als den "Weg des Betrunkenen" formulieren, wofür die folgenden Abbildungen ein reales biologisches Beispiel geben sollen:

Quelle: Stephen Jay Gould, "Illusion Fortschritt", 1996


Die Grundhypothese an dieser Stelle lautet, dass das Gesamtsystem von Biologie / Technik / Informationsverarbeitung einigermaßen schlüssig mit dem oben definierten Evolutionsmodell beschrieben werden kann. Die reproduzierten Einheiten sind Mensch / Waren / Information. Symbiotische Verhältnisse beschreiben deren Zusammenwirken.

Die biologische und die technische Evolution verlaufen erfahrungsgemäß überwiegend mit zunehmender Geschwindigkeit. Dieses Beschleunigungsphänomen soll im folgenden beleuchtet werden.

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