_ "Dilemma - Warum wir unsere Ressourcen zerstören, obwohl wir es doch besser wissen"

__ Zweite Auflage; G.Mair, Novum Verlag, 2023

85 % CO2-Reduktion bis 2050 in Deutschland - eine Wissenschaftsanalyse 2017

 

Kostenoptimierung der Energiewende durch Sektorkopplung

Januar 2018


Unter dem Titel "'Sektorkopplung' – Optionen für die nächste Phase der Energiewende" wurde 2017 von einer Gruppe nationaler Wissenschaftsakademien (1) analysiert, wie die deutsche Energiewende vom heutigen Stand auf das von EU und Bundesregierung formulierte Ziel einer Reduzierung 2050 um 85 % des CO2-Ausstoßes gegenüber 1990 ablaufen könne.

 
   Entwicklung des deutschen Primär- und Endenergieverbrauchs

PEV: Primärenergieverbrauch; EEV: Endenergieverbrauch
bis 1990 Summe aus BRD und DDR
Quelle: (1)

   

Die Graphik rechts zeigt, dass der Primärenergieverbrauch seit 1990 nur um 8 % gefallen ist, wobei der CO2-Ausstoß im gleichen Zeitraum von 1,05 Mrd. Tonnen auf 0,80 Mrd. Tonnen, also um 24 % fiel (nicht dargestellt (2)).
Es ist also offensichtlich, dass die bisherige Entwicklung nicht ausreichend schnell verläuft.

Die Analyse basiert auf einem technisch/ökonomischen Modell und gibt politische Empfehlungen.

Das Rechenmodell sucht unter den Randbedingungen der ständigen Energieverfügbarkeit und der jährlichen vorgegebenen CO2-Reduzierung den kostengünstigsten Pfad bis 2050.



Es werden einige einfache Annahmen zugrunde gelegt:
- direkter Strombedarf (ohne Verkehr und Heizung) bleibt konstant (480 TWh/a)
- die Kuppelleistung mit dem Ausland bleibt konstant (16 GW)
- das Angebot an Biomasse bleibt konstant (300 TWh/a)
- der Fahrzeugbestand bleibt etwa konstant
- die Energiepreise bleiben konstant
- CO2-Erzeugung aus chemischen Prozessen (wie bei der Herstellung von Stahl, Beton, Ammoniak) wird nicht berücksichtigt
(3)

 

 
         Endenergieverbrauch in Deutschland 2015 je Sektor
farbliche Aufteilung nach den drei Hauptformen der Endenergie: Brenn- und Kraftstoffe, Strom, Fernwärme
Quelle: (1)

Das zentrale technische Ergebnis ist, dass nur die sogenannte "Sektorkopplung" zum kostengünstigsten Ergebnis führt. Unter "Sektoren" werden hier die vier prinzipiellen Energieanwendungen

 

  • Niedertemperaturwärme (Gebäudeheizung)
  • Prozesswärme (Industrie)
  • originärer Stromverbrauch
  • Verkehr

definiert.

Die Abbildung rechts zeigt den heutigen Endenergieverbrauch (zur Erläuterung der Energiebegriffe s. (4)) dieser vier Sektoren und die von ihnen verwendeten Energiearten.


                                         Energiekennzahlen Deutschland 2015 und 2050
    Quelle: (1), Zahlen gerundet

 




Die Tabelle oben zeigt die Veränderung einiger Energiekennzahlen zwischen 2015 und 2050. Der Primärenergieverbrauch fällt um 40 %, der Endenergieverbrauch um 20 % (beide braun unterlegt). Wie kann das funktionieren, da doch laut weiter oben getroffenen Annahmen z. B. der direkte Stromverbrauch und der Automobilverkehr unverändert bleiben (während der Raumwärmebedarf durch Isolierung sinkt)?

Der zentrale Aspekt ist die Reduzierung der Verluste zwischen Primärenergie – der "geförderten" Energie – und der Nutzenergie – dem Endverbrauchernutzen (s. auch (4)).
Heute liegen die größten Verluste bei der Stromherstellung aus fossiler Energie (rund 70 % Verlust) sowie dem kraftstoffbetriebenen Automotor (rund 65 % Verlust).

Durch Verschiebung der Stromerzeugung auf Photovoltaik und Windkraft ergeben sich in Verbindung mit der Sektorkopplung erhebliche Verlustminderungsmöglichkeiten:

  • Der fossile Stromerzeugungsverlust entfällt. Damit wird Strom zur hocheffizienten Endenergie und sollte daher vorzugsweise direkt genutzt werden.
  • Durch direkte Stromnutzung im Verkehr entfällt der hohe Verlust des Verbrennungsmotors.
  • Im Sektor Niedertemperaturwärme kann über elektrische Wärmepumpen der Strom-Wirkungsgrad durch Mitnutzung von Umgebungswärme um den Faktor 3-5 gehebelt werden.

Im vierten Sektor "Prozesswärme" (Industrie und Gewerbe) besteht wenig Optimierungspotenzial. Rund
zwei Drittel werden bei Temperaturen oberhalb von 500 oC benötigt, die weiterhin im Wesentlichen aus gasförmigen oder flüssigen Kohlenwasserstoffen erzeugt werden.

Die Graphiken unten zeigen beispielhaft am Verkehrssektor, wie die Art der Motorisierung und die Primärenergiequelle die Energieeffizienz bestimmt.
So hat das klassische Auto mit fossilem Verbrennungsmotor nur 27 % Energieausbeute, da der Verbrennungsmotor als solcher einen schlechten Wirkungsgrad hat. Wasserstoff- oder Elektroautos, selbst mit fossiler Primärenergie, liegen besser mit 31 bzw. 41 % Wirkungsgrad (rechte Graphik).
Ein Elektroauto mit erneuerbarem Strom liegt mit Abstand am besten mit 69 %. Wandelt man den erneuerbaren Strom allerdings zurück um in Wasserstoff oder synthetischen Flüssigtreibstoff, sinkt die Effizienz dramatisch auf 26 bzw. 13 %. Allerdings sind diese Prozesse CO2-neutral, im Gegensatz zu den fossilen Quellen (linke Graphik).

 
 
                                                                 Vereinfachte Wandlungskette und Wirkungsgrade der relevanten Prozesse
                                                                                                    für verschiedene Fahrzeugtypen
Quelle: (1)
     

Diese Effizienzbetrachtung beleuchtet beispielhaft einen Nachteil der Stromerzeugung durch Solar- oder Windenergie, nämlich die Notwendigkeit der Speicherung, um unregelmäßige Produktion und „Dunkelflauten“ abzupuffern. Die Umwandlung von Strom in Gas oder Flüssigbrennstoff und wieder zurück in Strom hat nur knappe 30 % Ausbeute.

Daraus folgt im Modell dreierlei:

  • Die Optimierung der Speicherung ist hoch kostenrelevant und erfolgt nicht nur über den effizienzverlustbehafteten chemischen Weg (Wasserstoff, chemisch erzeugtes Methan oder Flüssigbrennstoff), sondern auch über Batterien (vorzugsweise dezentral in Wohneinheiten oder Fahrzeugen) und thermisch über regionale oder dezentrale Wasserspeicher. Biomasse wird verstärkt vergast zu Methan, um dessen Speichereigenschaft zu nutzen (5).
  • Die Laststeuerung nach Angebot („intelligentes Netz“) spielt eine zunehmende Rolle. Wenn Verbraucher zu Zeiten hohen Stromangebotes zugeschaltet werden, ist weniger Speicherkapazität erforderlich.
  • Das Modell reagiert stark auf Energieeinsparungen. Ein niedrigerer spezifischer Kraftfahrzeug-Flottenverbrauch, die Verlagerung von Verkehr auf die Schiene, die beschleunigte thermische Sanierung von Wohngebäuden oder effizienter Einsatz von Strom reduzieren überproportional die notwendige installierte Kapazität an Solar- und Windkraftanlagen sowie an benötigtem Speichervolumen.

Auch wenn weitere Energiegewinnungsquellen wie Solarthermie oder Tiefenerdwärme wichtige kleinere Beiträge leisten können, wird unabhängig davon auf jeden Fall eine großindustrielle Infrastruktur von Elektrolyseuren und chemischen Weiterverarbeitungsanlagen benötigt werden.

Nicht erfasst in dieser Analyse ist der CO2-Ausstoß von chemischen Prozessen. Dieser betrug für die Sektoren Eisen und Stahl (z. B. Hochofenprozess), Mineralverarbeitung (z. B. Zementherstellung) und chemische Industrie (z. B. Ammoniakherstellung) 2015 rund 89 Mio. Tonnen CO2, d. h. 11 % des gesamten CO2-Ausstoßes (6).

 
                           Hauptkomponenten der sektorgekoppelten Energiewende
 Quelle: Eigene Darstellung
   

Das rechtsstehende Kreisdiagramm zeigt die Abhängigkeit der Komponenten voneinander, sowie die gesellschaftlichen und politischen Implikationen.

Die erneuerbare Energieerzeugung (inklusive der nicht dargestellten Gas-Spitzenlastkraftwerke) mit Speicherung (schwarze Pfeile) stellt die Energie bereit. Ein Hindernis zur Umsetzung ist einerseits die gesellschaftliche Akzeptanz eines Windkraft/Solar-Ausbaues auf das Drei- bis Fünffache von heute. Andererseits kehrt man mit der chemischen Speicherung wieder zu niedrigen Energieausbeuten zurück, die man durch die Elektrifizierung gerade überwunden hatte.

Somit ist es zielführend, die sektorgekoppelten Verbraucher (blaue Pfeile) möglichst effizient zu organisieren.
Dazu sind konsumptive und investive Umstellungen erforderlich, wie im Niedertemperatursektor Verwendung von Wärmepumpen sowie Dämmung, im Verkehrssektor die Verlagerung von Gütern und Personen auf die Bahn sowie die Verbraucherfavorisierung sparsamer konventioneller Fahrzeuge mit folgender Elektrifizierung und im Stromsektor der effiziente Einsatz sowie die Bedarfssteuerung (intelligentes Netz: Bedarf wird abgerufen, wenn Strom billig ist).
Ebenso sind technische Entwicklungen erforderlich, vor allem im industriellen Sektor, im Verkehrssektor und für die Speicherung.

Die Studie weist darauf hin, dass die Energiewende weder von selbst, noch – ebenso wichtig – automatisch auf dem kostengünstigsten Pfad abläuft.
Sie empfiehlt der Politik als wichtigstes, ein möglichst einheitliches Preissignal für die Kosten von CO2 zu generieren, entweder durch Weiterentwicklung des europäischen CO2-Zertifikatesystems oder ersatzweise durch eine nationale CO2-Steuer. Damit würden die Marktkräfte von selbst den kostengünstigsten Weg suchen.
Neue Komponenten, wie z. B. die zunehmende Bereitstellung von Spitzenlastkraftwerken, die teilweise selten laufen (und damit nach heutigen Betriebsregeln unwirtschaftlich sind), müßten durch Regulierung (z. B. Markt für Kapazitätsbereitstellung) organisiert werden.  
Sodann sind gesetzliche Regelungen sowie finanzielle Anreizsignale erforderlich, um das Konsumentenverhalten im sich ändernden Umfeld umzusteuern. Beispiele wären die höhere Besteuerung von Treibstoff, Heizöl und Erdgas zur Verbilligung von Strom, oder die Subventionierung von Hauswärmedämmung oder der Verwendung von Wärmepumpen.
Alle politischen Steuerungen sollten langfristig angelegt sein, um der Industrie und den Verbrauchern Planungssicherheit zu geben.
Unabdingbarer Baustein ist jedoch die bereits genannte Preissignalsetzung für CO2. Dies wird zu einer Verteuerung fossiler Brennstoffe und zu einer Verbilligung von (Öko-)Strom führen.
Sodann ist es hilfreich, wenn die Öffentlichkeit, die Bürger und Wähler, informiert werden, damit sie die vorhandenen Zusammenhänge soweit verstehen, dass sie sich eine Meinung über die verschiedenen Varianten bilden können.

Die Studie ist keine Prognose, sondern eine Zusammenstellung technischer Abhängigkeiten.
Sie weist jedoch darauf hin, dass es innerhalb der Varianten Maßnahmen gibt, die "immer richtig" sind, wie z. B.

  • Die Entwicklung der Elektromobilität (hohe Effizienz)
  • Dämmung der Wohnhäuser (Einsparung)
  • Einsatz von Wärmepumpen (hohe Effizienz)
  • Wasserkraftspeicher oder thermische dezentrale Speicher (hohe Effizienz)
  • Einsatz von Gaskraftwerken (können später für erneuerbares Gas genutzt werden)
  • "intelligentes Netz" zur Bedarfssteuerung (Speicherbedarfsvermeidung)

Andere Maßnahmen sind nicht eindeutig "richtig", wie z. B.

  • Voller Stromerzeugungsausbau in Deutschland (Alternative: Zukauf von erneuerbarer Energie etwa aus Nordafrika)
  • Der Wasserstoffantrieb (Alternative: Erneuerbarer Flüssigtreibstoff oder Batteriebetrieb)

Was kostet die deutsche Energiewende? Die Studie schätzt Kosten von 1-2 % des Bruttoinlandsproduktes (30-60 Mrd. Euro jährlich), die sie von der Größenordnung her mit den Kosten der deutschen Einheit vergleicht.
Kostenschätzungen dieser Art sind allerdings sehr ungenau, da z. B. der Erdölpreis hochsignifikant eingeht, und dessen Prognose bis 2050 nahezu unmöglich ist.

Die "Sinnhaftigkeit" im Sinne einer nationalen Mitverantwortung für das globale Klimaproblem wird nicht thematisiert, jedoch darauf hingewiesen, dass Deutschland als Hochtechnologieland durch Entwicklung und Betrieb moderner Energiesysteme wirtschaftliche Chancen wahrnehmen könne - ein Aspekt, dessen Tragweite bei der globalen Neuorientierung der Automobilhersteller gerade gut zu beobachten ist.


Stand 2017


 

Quellenangaben und Anmerkungen
(1) Leopoldina (Nationale Akademie der Wissenschaften), acatech (Deutsche Akademie der Technikwissenschaften), Union der deutschen Akademien der Wissenschaften: "'Sektorkopplung' - Optionen für die nächste Phase der Energiewende", Nov. 2017
(2) Umweltbundesamt
(3) Der Wärmebedarf der chemischen Prozesse wird jedoch berücksichtigt

(4) Exkurs Energiebegriffe
Primärenergie: Energieträger nach Förderung (wie Kohle, Erdöl, Strom aus Windkraftanlage)
Endenergie: Beim Verbraucher ankommende Energie (wie Benzin, Fernwärme, Strom aus der Steckdose)
Nutzenergie: Energie in Nutzform (wie Licht, Kälte, Raumwärme, Pkw-Antrieb)

(5) Bei der langfristigen Energiespeicherung spielt Wasserstoff die entscheidende Schlüsselrolle, da die Wasserelektrolyse der effizienteste Umwandlungsschritt ist. Aus Wasserstoff können gegebenenfalls weitere chemische Speicherprodukte (Methan, Flüssigbrennstoffe) hergestellt werden.
Das Modell berechnet für 2050 eine Produktion von 50-200 TWh/a Wasserstoff, letzterer Wert entspricht (mit 4,3  kWh/m3 H2) rund 46 Mio. m3/a oder 4200 t/a Wasserstoff. Für Elektrolyseure, die z. B. mit halber Auslastung (4400 h/a Laufzeit) arbeiten, wären damit installierte Kapazitäten von etwa 10 000 m3/h (1  t/h) erforderlich. Man muss sich also eine neue großchemische Infrastruktur vorstellen, analog beispielsweise den heutigen Raffinerien, die Benzin oder Heizöl herstellen.

(6) CO2-Erzeugung durch chemische Prozesse
(6a) Die Zementherstellung ist nach der energetischen Verwertung fossiler Brennstoffe der größte CO2-Erzeuger, mit global etwa 4 % des Gesamtausstoßes.
Zement besteht etwa zu 60 % aus CaO (Kalziumoxid), welches im Brennprozess zumeist aus CaCO3 (Kalziumcarbonat, Kalkstein) gewonnen wird.
Die Freisetzung CaCO3 --> CaO + CO2 führt etwa zu einem Gewichtsfaktor CO2:Zement = 0,8.
Die deutsche Zementproduktion von 32 Mio. t/a (2015) erzeugt also rund 25 Mio. t/a CO2, oder 3,1 % des gesamten deutschen CO2-Ausstoßes.
Diese CO2-Erzeugung wäre durch Abtrennung und Wiederverwertung oder Speicherung (CCS: Carbon Capture and Storage) zu vermeiden.
(6b) Die Ammoniak (NH3)-Synthese ist ebenfalls ein großer CO2-Erzeuger. Über 80 % des Ammoniaks werden zu Düngemitteln, wie Harnstoff oder Ammoniumnitrat, weiterverarbeitet.
NH3 wird nach dem Haber-Bosch-Verfahren produziert: N2 + 3 H2 --> 2 NH3.
Die nötige Wasserstoff (H2)-Synthese erfolgt über das sogenannte Dampfreforming: CH4 + 2 H2O --> CO2 + 4 H2.
Insgesamt errechnet sich ein Gewichtsfaktor CO2:NH3 = 1,13.
Die deutsche Ammoniakproduktion von 2,9 Mio t/a (2015) erzeugt also 3,3 Mio. t/a CO2, 0,4 % des gesamten deutschen CO2-Ausstoßes.
Diese CO2-Erzeugung wäre im wesentlichen durch Verwendung elektrochemisch erzeugten Wasserstoffs zu vermeiden.